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Pico


He selbst wollte nicht sofort wieder aufbrechen, sondern erst anderntags mit den verbliebenen Team- und Servicekollegen weiterfahren. Er unterbrach seine persönliche Laufleistung einen Tag länger, im Unterschied zur vergangenen Woche, in der er täglich in wechselnden Tag und Nachtzeiten eine Strecke von 20 bis 30 km gelaufen war. Mit 10 Laufabschnitten hatte He bisher einen beachtlichen Anteil der Staffel erledigt. Darum durfte er jetzt länger pausieren. Nach zwei Ruhetagen würde er aber wieder voll gefordert werden. Dann ging es entweder bei Tag oder bei Nacht über Hochgebirgspässe und Schluchten der Anden nach Peru. Die Wüste würde dann hinter ihnen liegen und die Gefahr der Lungenverstaubung war endlich vorüber.
Jetzt hatte er erst einmal das dringende Bedürfnis zu duschen. Auf der letzten Strecke hatte He die meiste Zeit seinen Mundschutz getragen, einen hoch qualifizierten Atemluftfilter, der ihn beim Ein- und Ausatmen durch Mund oder Nase kaum behinderte, aber äußerst wirkungsvoll alle Arten von Stäuben abfing. Er zog sich die Atemmaske vom Gesicht, streifte sein Hemd ab und suchte nach einer Handduschmöglichkeit hinter dem Zelt. Doch Gerd, sein momentaner Betreuer vom deutschen Team, klärte ihn darüber auf, dass es nicht weit entfernt so etwas wie ein Schwimmbad geben musste. Dort waren entsprechende Einrichtungen, um sich gründlich frisch zu machen.
Mit dem Geländewagen des Teams fuhren sie ein paar 100 m Richtung Siedlung und gelangten an eine Art Sportanlage. Der steinige Sand der Spielfläche war vom Wüstengelände darum herum kaum zu unterscheiden, obwohl er von einer kniehohen kahlen Betonmauer umgrenzt wurde. Die Aussicht auf ein Schwimmbad hatte sich schnell verflüchtigt. Das, was früher mal als Becken gedient hatte, war nun fast zur Hälfte mit Sand gefüllt.
Gerd und He hatten aber Standbrausen mit Wasseranschluss gefunden. Sie mussten ein eisernes Handrad an der Hauptleitung öffnen, dann spuckten die Brauseköpfe Wasser, anfänglich braun verschmutzt, dann aber klar und erfrischend. Natürlich war das nicht als Trinkwasser geeignet. Die beiden Erfrischung Suchenden lachten sich triumphierend an.
Der Platz lag nicht weit entfernt von einer Gruppe von Behausungen. Dort wohnten Kupferminenarbeiter und ihre Angehörigen.
Die Häuseransammlung war ein Siedlungsausläufer der Grubenstadt Calama und offenbar den Beschäftigten im westlichen Tagesabbaugebiet der Mine vorbehalten. Die einstöckigen Flachbauten waren neueren Datums. Sie ersetzten wohl eine vorangegangene Barackengeneration, von denen nur noch zwei bis drei schäbige Bretterwracks stehen geblieben waren.
Darin lebten sogar noch Menschen, die ihren Job seit Langem verloren hatten und arg heruntergekommen waren. Sie hielten aber den Anspruch aufrecht, so lange hier wohnen zu bleiben, wie es ihnen recht war.
Die drei frei stehenden Duschkabinen waren ohne Türen. Nur zur Siedlung hin wiesen sie hüfthohe Verschläge als Sichtblenden auf. Zum Platz hin waren sie offen.

Die Siedlung war ohne Leben. Erst als Gerd und He aus dem Auto ausgestiegen waren, schien sich etwas hinter den Fenstern zu regen. Eine korpulente Frau entsorgte den Tagesmüll. Sie trat aus der Tür ihrer Hütte, um einen Vorwand zu haben, mit kritischem Blick Ausschau nach den fremden Ankömmlingen zu halten. Die Männer der Siedlung waren auf Schicht, sprengten und wühlten im Nordwesten der Mine den staubigen Wüstenfelsen auf, entzogen ihm mit giftiger Chemie das kupferhaltige Gestein und transportierten es mit riesigen Lastkippern zur Weiterverarbeitung Richtung Küste.
He hatte keine Hemmungen, sich seiner durchschwitzten Sportkleider zu entledigen und sich nackt unter die Freiluftdusche zu stellen. Er genoss das Wasser auf der Haut, ließ es über seinen schwarzen Haarschopf und über das von der Sonne gerötete Gesicht rinnen. Dann seifte er sich den Körper ein. Als er sich gerade die Augen von der beißenden Lauge befreite, stand plötzlich einer der Jungen vor ihm und schaute ihm wortlos zu. Es war der Gladiatorenankündiger. Er hielt noch sein Fahrrad in der Hand, mochte 13 bis 14 Jahre alt sein. He nickte ihm zu, während er sich den Rücken abspülte. Dann drehte er das Wasser ab, griff sein Handtuch, begann sich damit abzutrocknen und trat vor die Duschkabine. „Alles klar?“ versuchte er dem Halbwüchsigen einen Gesprächseinstieg zu geben. Etwas verlegen schwenkte der sein Fahrrad vor und zurück. „Du läufst bis zum Machu Picchu?“, fragte der Junge ihn auf Spanisch, ohne aufzublicken.
He verstand die Frage nur halbwegs und versuchte ihm auf Englisch zu erklären: „Nicht ganz. Wir sind ein Staffelteam. Ich laufe nicht alleine.“
Hilfe suchend schaute sich He nach Gerd um, der besser im Spanischen war. Doch er musste abwarten, bis der sich etwas übergezogen hatte.
He wand sich sein Handtuch um die Hüfte und ging auf dem jungen Inka zu, reichte ihm die Hand, zeigte auf sich und nannte seinen Namen: „ArrHe“, dann deutete er fragend auf ihn. Der Junge verstand sofort und stellte sich mit „Pico“ vor. Dann drehte er sich um und deutete auf eines der neueren Häuschen und sagte „Casa mia“. Das verstand He. Dann schwiegen sie sich wieder an. Halb abgewandt zog He unter den Augen von Pico Hose und Hemd an.
Endlich trat Gerd hinzu und half, dass die Verständigung flüssiger lief. Natürlich gab es nicht viel zu reden, zumal Gerd gar nicht in der Stimmung war, dem chilenischen Jungen einen Vortrag auf Spanisch über Chaskis und Inka-Pfade zu halten. Schließlich verabschiedeten sich die beiden Sportler von ihm und setzten sich ins Auto, um zurück zu ihrem Zeltplatz zu fahren. Sofort heftete sich der Junge mit dem Fahrrad ihnen an. Er fuhr ihnen einfach hinterher.

Es war Gerd, der im Auto den Vorschlag machte, den anhänglichen Chilenenjunge heute Nachmittag zu ihrem spartanischen Campingessen am Zelt einzuladen. Dann fiel ihm noch etwas ein: „Wir haben auf dem Anhänger einen Ersatzballon, der unbedingt auf Einsatztauglichkeit getestet werden muss. Wenn du morgen wegen der Verlängerung deiner Regenerierungspause noch hier bleibst, könnten wir damit eine kleine Tour in die Höhe machen.“
He wunderte sich und wandte ein: „Aber das ist doch ein unbemannter Überwachungsballons, wie sollen wir darin mitfliegen?“
„Kein Problem: Der Korb enthält zwar einige Geräte, lässt aber Platz für mehrere Paar Füße. Ob wir ihn mit 100 oder 300 Kilo belasten, spielt dabei keine Rolle. Wir wollen ja keinen Überlandflug machen.“
Der Vorschlag kam He nur zurecht. Denn das Tagesabbaufeld der Kupfermine hatte sein Interesse geweckt. Allzu sehr bot sich ein Vergleich mit einer Marslandschaft an. Hier auf Erden bot sich ihm die Möglichkeit, durch den Anblick des roten Geländes der Kupfermine die Lebensverhältnisse auf dem fremden Planeten zu erahnen. Das wollte er sich nicht entgehen lassen. Außerdem war es gut, Körper und Psyche in der vorgeschriebenen Erholungspause durch angenehme Ablenkungen zu unterstützen.
Sie fuhren mit dem Auto zurück zum Sportlager, diesmal bewusst langsam, um für Pico hinter ihnen auf dem Mountainbike nicht zu viel Staub aufzuwirbeln. Am Zelt angekommen, zeigte sich der Junge sehr anhänglich. Jedoch beim Essen langte er nicht zu, wie man es von einem Dreizehnjährigen erwartete. Nur ein Würstchen aus der Dose war ihm willkommen und etwas Obst aus Konservendosen. Und selbst das schien er nur aus Höflichkeit anzunehmen. Die beiden Sportler fanden es amüsant, sich mit Pico, dem Jungen mit dem Inka Gesicht, die Abendstunden zu vertreiben. Vor dem Sonnenuntergang schickten sie ihn heim.
„Morgen Schule?“, fragte Gerd ihn.
„Lehrerin krank“, erklärte Pico. Gerd musste lachen. Doch dann kam He auf die Idee, den Jungen im Ballon beim geplanten Testkurzaufstieg mitzunehmen. Er konnte ihnen vielleicht etwas zur Gegend sagen. Pico wollte wissen, was sie mit Ballonfahrt meinten. Gerd machte es sich mit der Erklärung einfach: „Komm morgen früh um 9:00 Uhr, dann kannst du selbst sehen.“ Pico schaute die beiden ausdruckslos an. Ohne sich groß zu verabschieden, schwang er sich auf sein Mountainbike und zog ab. Als er weg war, fragte He Gerd, „Kommt er nun morgen früh, oder nicht?“.

„Der kommt. Da bin ich sicher. Und zwar noch vor 9:00 Uhr“ lautete Gerds Prognose. Und er hatte Recht. Es war nicht einmal 8:30 Uhr, He und Gerd waren noch damit beschäftigt, dem Ballon Wasserdampf einzufüllen, im Korb die Autopilotsteuerung und die Kommunikationseinheit zu installieren, die Sicherung der Seile zu prüfen und einen Propeller anzubringen. Da tauchte er auf, einfach so, ohne ein Wort zu sagen. Die Vorbereitungen zum Testflug nahmen noch einige Zeit in Anspruch. Pico gesellte sich zu den Sportlern. Zum ersten Mal hatte er in ihrer Gegenwart sein Fahrrad abgestellt. Eine Art Vertrauensbeweis. Abschließen konnte man es nicht. Als alle Vorbereitungen zur Ballonfahrt erledigt waren, stiegen die beiden Sportler in den Korb und riefen Pico herbei. Ob er Lust habe auf einen Kurztrip mitzukommen, fragten sie ihn. In 20 Minuten würden sie schon wieder herunterkommen. Nach einigem Hin und Her verstand Pico, was sie mit ihm vorhatten. Er trat hinzu und kletterte in den engen Korb. Sie ließen ihn sich auf eine der Gerätekisten setzen, während sie aufrecht stehen blieben, um den Ballon zu manövrieren. Eine weitere Person passte in den engen Raum nicht mehr hinein. Gerd machte alle Geräte startklar. Hoch über ihren Köpfen brauste der Brenner für die Heißlufterzeugung und der Ballon wölbte sich zu seiner vollen Größe auf. Sie hoben ab. Es war ein tolles Gefühl, gen Himmel zu treiben. Der Junge war offensichtlich beeindruckt. Alle drei sicherten sich mit Karabinerhaken am Korbrand. Pico musste ein wenig den Hals verrenken, um über die Reling nach unten zu schauen. Sie fragten ihn, ob es ihm Spaß machte. Er nickte. Wie in einem Aufzug ging es nach oben. Der Blick war fantastisch von hier aus. Picos Elternhaus, die Siedlung, der Sportplatz, alles verkleinerte sich auf Spielzeuggröße. Nun konnte man die Straßenverbindung nach Calama im Grau des Fördergebiets verfolgen. Und dann überblickten sie das ganze gigantische Tagesabbaugelände der Großgrube. In unerbittlich staubig schmutzigem Grau-Braun gehaltenen Farbton zeigte sich unter ihnen eine backformartig gestaltete Landschaft, die auffällig in symmetrischen Mustern modelliert war. Das war keine natürliche Struktur, sondern das Resultat von Abraumtechniken, die Furche an Furche, Hügel an Hügel bar jeden Bewuchses und jeden Lebens totes vergiftetes Gelände hinterließ. Gebrochen wurden diese Strukturen von Lkw Spuren, die in großen schwungvollen Bögen die Baggerlöcher mit den Transportstraßen verbanden.


Ballonaufstieg mit Fan


Als die beiden Männer Pico fragten, wo denn dort unten sein Vater arbeitete, konnte er darauf nicht antworten. Er wusste es nicht. Dieser Anblick aus der Höhe war dem jungen Chilenen völlig neu. Sein Vater hatte ihn nie zur Arbeit mitgenommen. Kinder hatten in diesem gefährlichen Gewerke nichts zu suchen. Tonnenschwere Steinbrocken wurden aus den Felsen gesprengt, zerkleinert, gemahlen, in gefährlichem chemischen Gemisch gewässert, wieder ausgefiltert, geschmolzen, galvanisiert, verladen, zur Küste gefahren und schließlich im Hafen verschifft. He war von dem Anblick wie gefangen. Als sie in Deutschland zur Vorbereitung auf das Sportereignis die 5000 km Laufstrecke per Bildschirmsimulation elektronisch abfuhren, war ihm die Kupfertagesförderung in der Nähe des Parcours nicht sonderlich aufgefallen. Jetzt aber zog er in seinem Kopf hartnäckig Parallelen zu Lebensbedingungen zukünftiger Marsbesucher. In wenigen Jahren sollten dort Menschen landen. He stellte sich die Frage, ob sie dort ein ähnliches Leben erwartete, wie es die Menschen hier in dieser naturfeindlichen Welt führten. Und ob sie so wie hier im gigantischen Ausmaß Bodenschätze förderten, um den maßlosen Bedarf irdischer Industrien an Kupfer oder anderen Bodenschätzen zu befriedigen. Auch hier - so meinte er - wäre es angebracht, den Bewohnern und Arbeitern Schutzhelm und Anzüge wie auf dem Mars zu verpassen und sie gegen eine auch hier - zumindest auf lange Sicht – tödlich vergiftete Atmosphäre zu schützen. Der Kupfertagebau war Gesundheit verachtend. Die hier arbeitenden Männer hatten ihre Ausbildung Ausbildung sein lassen, um für mehr Geld bei einem der schädigenden Jobs anzuheuern. Um das Doppelte zu verdienen, verkürzten sie ihre Lebenserwartung. He kam sich vor, als besichtigte er eine Marsstation vom Mutterschiff aus und bekäme einen gleichermaßen Menschen verschleißenden Betrieb zu sehen. He schwor sich, keinesfalls Astronaut mit dem Ziel zu werden, anderen Menschen derartige Verhältnisse zuzumuten oder ihnen auch nur als Option zu eröffnen. Er schaute auf den Jungen neben sich, der in diese Staubwüstenarbeitswelt hineingeboren war. Eine andere Wirklichkeit hatte der junge Mensch bisher nicht kennen gelernt, einmal abgesehen von Medienberichten aus anderen Gegenden der Welt. Würde er glücklich sein, den Job seines Vaters auf dem Mars ausüben zu dürfen?, fragte sich He. Nein, was für ein enttäuschendes Zukunftsbild! Was für manche als eine Vision der Planetenerschließung daherkam, konnte sich durchaus als Albtraum für diejenigen erweisen, die sie mit körperlichem Einsatz zu verwirklichen hatten. He grübelte. Er.Fragte sich angestrengt: Gab es denn keine positiveren Aussichten für Weltraumpioniere wie ihn und seine Brüder? Wo blieben nur der Ehrgeiz und der Anspruch, im Stil der ersten Siedler des amerikanischen Kontinents ganz neu anzufangen und eine bessere Welt zu schaffen? Hatte dazu denn niemand eine Idee? Für He war unakzeptabel, den Mars praktisch nur als Erweiterung der Erdoberfläche, also als sechsten oder xten Kontinent anzusehen, der der Sonne abzuringen und zu besiedeln war wie irdische Wüsten. Gab es nicht Grund genug, nach neuen Konzepten vorzugehen, die Erfolg nicht nur  zum Lebensglück der Siedler brachten, sondern auch mit Rückwirkung auf die alte Welt? Bohrend fragte sich He: Sollten Weltraumpioniere die Besiedlung des Sonnensystems nicht besser ausdrücklich von Ideen und Konzepten abhängig machen, die neue Möglichkeiten des menschlichen Daseins  erschlossen und alles bisher Dagewesene sprengten, statt nach alten Mustern vorzugehen? Um über die Erde hinaus zu wachsen, musste die Menschheit sich angemessene, neue Ziele setzen, die neue humane Existenzformen bedeuteten. He seufzte und legte unwillkürlich dem Jungen die Hand auf die Schulter. Der empfand das als Ritterschlag, lächelte He an und schaute stolz in die Tiefe.

Plötzlich ergriff eine heftige Windböe das gemächliche Fluggerät und riss die drei Passagiere aus ihrer verträumten Landschaftsergebenheit. Der Ballon jagte für einen Moment der anhängenden Gondel im schrägen Winkel voraus, dass es den Männern einen Schreck in die Adern jagte. He warf einen Blick auf den Jungen, der in seiner Sitzposition glücklicherweise vom Schleudereffekt unbehelligt blieb, während sich Gerd und He auf ihren knapp bemessenen Stehplätzen schnell mit beiden Händen an der Vertäuung der Gondel festhielten, um nicht übereinander oder über Bord zu fallen. „Wir müssen zurück, schnell!“, stieß He hervor. Ihm wurde die Sache zu brenzlig. Gerd versuchte, schnell zu reagieren. Obwohl der Wind sich nach dem plötzlichen Aufbäumen langsam wieder zu beruhigen schien, konnte er keinesfalls gegen ihn anfliegen. Er startete den Hilfspropeller. Aber der war zu schwach, um den Ballon in die entgegengesetzte Richtung umzulenken. Sie waren nur wenige Luftlinienkilometer vom Lager entfernt, von wo sie vor einer guten halben Stunde aufgestiegen waren, schwebten nun aber bereits über dem weitläufigen Minengelände. „Runter! Geh einfach runter mit dem Ding!“ gab He nun entschlossen die Richtung vor.
Gerd war verunsichert: „In dieser gottverlassenen Horrorwüste willst du landen?“
Um weitere Diskussionen abzukürzen, wandte sich He unbesehen einem unter dem Brenner hängenden Gerät zu, das die Befeuerung des Heißluftballons regulierte und auf die Fernsteuerung ansprach, die das Fluggerät beim Standardeinsatz zur Begleitung der Läufer kontrollierte. Er legte einen rot markierten Hebel um, wodurch in der Manier eines Autopiloten der Ballon zur Landung gebracht wurde. In Bodennähe gab es glücklicherweise kaum Luftbewegung und der Korb setzte nicht allzu hart auf. Der Brenner hatte sich bei der Abwärtsfahrt längst abgeschaltet. Mit einem Sprung verließen die Drei das Gefährt und liefen zur Seite, um der sich herablassenden Ballonhülle zu entgehen. Sie waren in einem weitläufigen öden Grubental gelandet, das offenbar schon seit langer Zeit ausgebaggert zurückgelassen war, wie das meiste des tausende Quadratkilometer großen Geländes der seit über 100 Jahre im Tagebau betriebenen Kupfermine.
Da standen die Drei nun inmitten einer grauen Steinwüste und schauten ratlos auf die in einiger Entfernung sich hochziehenden Hänge der weitläufigen Grube. Nichts als staubtrockene, tote, künstlich aufgewühlte Erdmasse umgab sie, als wären sie in einem riesigen ausgehobenen Grab geendet. Der Junge war bedrückt und schaute die beiden Männer fragend an, ohne etwas zu sagen. Gerd legte ihm beruhigend die Hand auf die Schulter und begann auf Spanisch zu ratebrechen: „Keine Angst, wir werden bald abgeholt.“
He rief jemanden von der Wettkampfstation an, die nicht weit weg sein konnte. Er bat dringend, sie und den Ballon mit einem der geländegängigen Transportfahrzeuge abzuholen. Die geografische Position konnten die ja leicht durch Ortung der Ballon-Funkgeräte feststellen.
„Aber ihr seid auf dem Privatgelände der Minengesellschaft“, wandte der vom Sportcamp ein, als sie die Gestrandeten auf ihrem Monitor ausgemacht hatten. „Da können wir nicht ohne Weiteres rein fahren und irgendwelche Sachen abtransportieren. So einfach geht das nicht. Wir müssen die Minenverwaltung um Erlaubnis fragen, es bleibt nichts anderes übrig, wenn wir nicht noch mehr Ärger bekommen wollen.“
Gerd übernahm den unerfreulichen Anruf bei der Grubenaufsicht. Über mehrere Verbindungsschritte ließ er sich mit der Werkschutzzentrale verbinden, die über dem riesigen Gelände wachte.
Als die Diensthabenden von der Sicherheit endlich die Lage der Gestrandeten begriffen, forderten sie als Erstes die Personalien aller Beteiligten.
Sie verlangten außerdem nach einem Live-Video per Handyübertragung vom momentanen Stand- und Unglücksort einschließlich des Ballons und der Nahaufnahmen von allen beteiligten Personen mit Namensangaben. „No problemo“, sagte Gerd und begann mit den Aufnahmen.
Von Pico musste er den vollen Namen erst erfragen. Um die Verständigung zu erleichtern, überließ er dem Jungen für einen Moment das Handy, damit er in eigener Sprache die gewünschten Angaben über sich an die Sicherheitsleute richtete. Pico hieß eigentlich Eduardo Ramires, sein Vater Enrico Ramires. Gerd merkte, ohne genau zu verstehen, was da gesprochen wurde, dass der Junge sogleich von seinem Gesprächspartner unter Rechtfertigungsdruck gesetzt wurde. Er nahm darum das Sprechgerät hastig wieder an sich und beschwerte sich unter Einsatz aller ihm zur Verfügung stehenden Spanischkenntnisse bei dem Minenangestellten. Statt großartige Personenrecherchen anzustellen, sollte er besser schleunigst dem Fahrzeug der Wettkampforganisation Einlass aufs Gelände gewähren, brüllte er ins Telefon. Die Teamfreunde hatten sich wahrscheinlich schon auf den Weg gemacht, um die vom Himmel Gefallenen hier rauszuholen. In unterkühlter Tonlage versicherte der Angestellte, er werde sein Bestes tun, und ließ die fremden Eindringlinge warten.



Picos Vater


He hatte begonnen, die Ballonhülle zusammenzulegen, um sie dann zu einem Paket einzurollen. Gerade, als er Pico auffordern wollte, ihm zu helfen, sah er die Verzweiflung in den markanten inkatypischen Gesichtszügen des Jungen. Pico war offensichtlich sehr unglücklich über seine Lage. Schnell kramte He eine Wasserflasche aus der Gondel hervor und bot Pico zu trinken an. Der hatte sich auf einen Stein des geröllreichen Bodens gesetzt und stieß halblaut verzweifelte Flüche und Verwünschungen aus. Offenbar ging es dabei um seinen Vater. Und langsam verstand He, dass der Werkschutz wohl jetzt dabei war, anhand von Picos Name und Adresse seinen Vater, der irgendwo in der Mine auf Schicht war, ausfindig zu machen und dazu zu bringen, seinen Sohn persönlich abzuholen.
Plötzlich erhob sich Pico, nahm seine Umhängetasche aus dem Korb, deutete vor den beiden Sportlern eine Laufbewegung an, um deutlich zu machen, was er vorhatte. Dann zeigte er in Richtung des Läuferstützpunktes, wo er ja sein Fahrrad zurückgelassen hatte. Unverkennbar war seine Absicht, zu Fuß, also durch Geröllhalden–rauf-und-runter-klettern und Querfeldeinlaufen dorthin zu gelangen. So würde er sein Bike schneller  erreichen, als auf den Wettkampfservice zu warten. Das Motorfahrzeug brauchte außerdem auf den endlosen Serpentinen und durch das weit abgelegene offizielle Ein- und Ausfahrtstor viel mehr Zeit. Auf jeden Fall wollte Pico seinem Vater zuvorkommen. Auf eigenen Füßen war er schneller. Zumal die Einzäunung des riesigen Geländes von einem behänden Fußgänger einigermaßen leicht überwunden werden konnte.
Gerd und He versuchten vergeblich den Jungen davon zu überzeugen, dass es besser war, mit ihnen auf die Delegationen des Werkschutzes zu warten. Aber sie verstanden auch, dass der Teenager eine Konfrontation mit seinem Vater in dieser Situation unbedingt vermeiden wollte. Sie blickten dem Jungen nach und sahen ihn langsam über die Geröllhalden am Grubenhorizont verschwinden. Für einen Moment dachte He daran, dem Jungen durch das unwirtliche Gelände zu folgen. Darauf war er ja nun hinreichend trainiert. Aber den Gedanken wischte er schnell wieder beiseite. Er hatte sich jetzt gemeinsam mit Gerd den unangenehmen Formalitäten der Grubenverwaltung zu stellen, um alsbald zum Camp zurückzukehren und den Staffelwettlauf wie geplant fortzusetzen.
Nachdem die beiden Männer die Ballonplane vollständig eingerollt und verschnürt, den Brenner abgetrennt und Überwachungsgeräte transportfähig gemacht hatten, mussten sie immer noch eine endlos scheinenden Zeit warten, bis sie von Ferne, durch eine Staubwolke angekündigt, ein Fahrzeug sich nähern sahen. Dem Truck entstiegen zwei Männer. In einem von ihnen erkannte He die Züge von Pico wieder. Nur waren sie durch die gegerbte Gesichtshaut noch markanter ausgeprägt. Unwirsch fragte der Minenarbeiter nach seinem Sohn. Gerd versuchte ihm im gebrochenen Spanisch klarzumachen, dass der schon vor einer drei viertel Stunde zu Fuß nach Hause aufgebrochen war und erklärt hatte, noch vor ihnen dort anzukommen. Enrico Ramirez war wütend. Am liebsten hätte er sich die beiden Sportler vorgenommen. Aber die überragten den Inkamann um mehr als einen Kopf. So entlud er seine Wut durch laute Vorwürfe und Vorhaltungen, die die beiden Angebrüllten zwar dem Wort nach kaum verstanden, aber dennoch mit dem Ausdruck entwaffnender Demut entgegennahmen. Gerd versuchte vorsichtig zu erfragen, wie es nun um die Einfahrerlaubnis für das Fahrzeug der Sportorganisation stand, das zum Abtransport der vor ihnen liegenden Gegenstände unterwegs war. Doch das schien plötzlich keine große Bedeutung mehr zu haben, als Ramirez durch einen Anruf erfuhr, dass Pico inzwischen zu Hause angekommen war. Es bedurfte noch zahlreicher Telefonate, die mehrmals hin und her zwischen Camp, Transportfahrer, den beide Minenvertretern vor Ort und der Werkschutzzentrale liefen, bis endlich den Sporthelfern aus dem Camp mit ihrem Geländewagen Einlass ins Minenterritorium gegeben und der günstigste Weg zum Abtransport des Ballons mitgeteilt wurde. Dann brauchte es nur noch eine Stunde, bis alle wieder dort waren, wo sie hingehörten. Im Stützpunkt der Sportler mussten Gerd und He sich zwar einige Vorwürfe anhören, aber es war nicht das erste Mal, dass ein Ballon nach einem Testflug von schwer zugänglichem Gelände wieder eingeholt werden musste. He tat der Junge leid. Pico musste von seinem Vater sicherlich eine Menge Ärger einstecken. Er fühlte sich schuldig und wollte den Eltern Geld anbieten als Entschädigung für die von ihnen verschuldeten Unannehmlichkeiten. Aber Gerd hielt ihn davon ab: „Das sehen die nur als unlauteres Angebot an, ihnen den Jungen abzukaufen“, sagte er, „damit machst du alles nur noch schlimmer“. He war einsichtig und gab sein Vorhaben auf. Zuguterletzt schafften sie es, pünktlich für den nächsten Laufabschnitt bereit zu sein.
Zwillingsbrüderliche Anziehung

Arr trennte sich von Terry in der Nähe eines Flugplatzes. Dort nahm er einen Kleinstflieger, der ihn zu einem geeigneten Ziel unweit der aktiv umkämpften Laufstrecke brachte. Er ließ sich etwas abseits des bereits aufgebauten Staffelwechseldepots absetzen. Auf keinen Fall wollte er den Wettkampfbetrieb stören. Darum blieb Arr nichts anderes übrig, als sich heimlich an He heranzuarbeiten. Es war später Nachmittag. Soweit er die Lage überblicken konnte, hatte er einen günstigen Zeitpunkt getroffen, um im Lager der Sportler unerkannt zwischen den leeren Zelten abzutauchen. Nur ein paar Leute vom Betreuungspersonal standen zusammen und unterhielten sich entspannt. Offenbar warteten sie auf die Ankunft der Staffelläufer. Von Wettkampfstimmung war wenig zu spüren. Die Läufer wurden ja immer einzeln erwartet. Pulks wie bei Marathonläufen gab es nicht. Der Punkt der Staffelablösung war circa 100 m von Arrs Standort entfernt. Nur ein paar Teammitglieder standen dort herum. Vom Dorf waren eine Handvoll Zuschauer, ein paar Halbwüchsige, erschienen. Denen hatte man gesagt, dass gegen 17:00 Uhr einer der Läufer an dieser Stelle abgelöst wurde. Derjenige, der hier starten sollte, war zwar schon seit geraumer Zeit laufbereit, fiel aber gegenüber dem Service Leuten kaum auf, weil er noch in Trainingskleidern steckte und nur hin und wieder ein Paar Sprints über 20 m hinlegte. Aber auch mit solchen Zeit überbrückenden Bewegungsübungen unterschied er sich von den anderen Männern nur wenig, denn die vertraten sich ebenfalls die Beine, um sich die Wartezeit zu vertreiben.
Die Jugendlichen interessierten sich für die beiden Pressefahrzeuge und Übertragungswagen, die mit ihrer großen Tellerantenne auf dem Dach dem Staffelwechsel an diesem Ort überhaupt erst Bedeutung verschafften.
Einer der pubertären Dorfjungen stand mit halb zusammengekniffenen Augen da und beobachtete mit den Händen in den Hosentaschen die Ausländer.
Die Warteposition bot ihm Gelegenheit, sich unbeobachtet zu fühlen und in den Taschen gemächlich sein jung gereiftes Geschlecht zu streicheln und den dadurch ausgelösten Gefühlswellen mit leichten Schwankungen seines Körpers nachzugeben.
Nur hin und wieder schaute er sich etwas schuldbewusst um, um zu prüfen, ob ihn niemand bei seinem heimlichen Genuss beobachtete. Dann wechselte er das Standbein und setzte die sanfte Selbstmassage mit der anderen Hand unter dem Sichtschutz seiner Hose fort.
Ein Gleichaltriger trat zu ihm. Die Hand, die eben noch unsichtbar die Vorhaut verschoben hatte, reichte er ihm zum Gruß. Der damit verbundene Verzicht auf weitere Wellen der Hormonausschüttung schien ihm die Stimmung nicht zu trüben. Beide übten sich nun im Dorfplausch nach Erwachsenenmanier. Es ging natürlich um das Sportereignis. Den startbereiten Anschlussläufer hatten sie bereits unter den anwesenden Fremden ausgemacht. An ihrer Mimik sah man, dass sie abschätzige Bemerkungen über ihn machten, die sie überlaut belachten. Wichtig tuend fachsimpelten sie über den in Kürze erwarteten Langstreckenläufer, schienen über dessen Kondition bestens bescheid zu wissen und hielten bald ihr Schwätzchen über alles, was es für Teenager in einem Dorf der Atakamawüste zu bereden gab.

Arr beobachtete die Szene. Nach allem, was er bisher erfahren hatte, musste He an dieser Stelle den Staffelstab, oder was immer er zu diesem Zweck mit sich führte, an einen Mitkämpfer seines Teams übergeben. Und wenn er recht im Bilde war, dann würde He nach seinem Teilabschnittslauf heute in einem dieser Zelte hier übernachten.
Innerlich war Arr ziemlich aufgewühlt. Er fühlte die Begegnung mit seinem Klonbruder näherkommen. Aber er musste sich unter Kontrolle halten, weil er auf keinen Fall auffallen durfte. Er sah dem Läufer so verdammt ähnlich, dass die Menschen hier sich sehr leicht getäuscht fühlen konnten, wenn sie bei ihm annehmen mussten, He gegenüberzustehen. Würde Arr aber jetzt einen auf Indianerspiel mit Heranschleichen und Über-den-Boden-robben machen, mochte das eher zu Aufsehen führen, als wenn er mit abgewandtem Gesicht wie selbstverständlich als Crewmitglied in einem der Zelte verschwand. So würde er wohl jetzt am allerwenigsten Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Aber welches Zelt sollte er ansteuern? In welchem würde He übernachten? Wenn er das nur wüsste. Und wo war Pilar, wo hatte sie ihre Unterkunft? Arr drückte sich immer noch im Schatten einer verlassenen Scheune herum. Er hatte seinen Rucksack abgelegt und sich neben ihn gesetzt, um in Ruhe zu überlegen. Müde war er nicht. Im Gegenteil: Sein Tatendrang, endlich seinem Bruder entgegenzutreten, stand im völligen Gegensatz zur südamerikanischen Siestaatmosphäre, die sich über die hier wartenden Menschen gelegt hatte. Dabei war es schon fast 5:00 Uhr nachmittags. Von brennender Hitze konnte keine Rede sein, weil sich bedrohlich dunkles Gewölk über der Hochebene zusammenzog und heftige Regengüsse ankündigte.
Der Anschlusslauf nach dem Staffelwechsel würde noch bis tief in die Nacht weitergehen, allerdings dann auf befestigter Straße. Für den Nacht-Läufer war das von Vorteil, denn die Luftdruckverhältnisse, die Temperaturen und Luftfeuchtigkeit waren nachts unter Umständen günstiger als am Tage. Für den Abschnitt, den He heute hinter sich brachte, konnte man das nicht sagen. Denn sein Pfad führte durch unwegsames Gelände der Atakamawüste. Da ging es zeitweilig quer durch steiniges Geröll.

Der ursprüngliche Inka Pfad war aus diesem Landschaftsbereich  verschwunden. Man wusste nur aufgrund der nachgewiesenen Anschlusspfade, dass er hier hindurchgeführt haben musste: Es war wohl ein Bergpfad im Zickzack den Hang hinauf, der im Lauf der Jahrhunderte von der Witterung unkenntlich wurde und infolgedessen ungenutzt blieb. In einem derartigen Fall musste ein Wettkampfläufer sich selbst den Weg querfeldein den Hang hinauf bahnen und sehen, dass er, ohne abzurutschen, umzuknicken, also ohne Verletzungen durch Fehltritte sein Ziel erreichte.
Die Ankunft Hes wurde ab 17:00 Uhr erwartet. Arr hatte in seinem Versteck sitzend die Knie herangezogen, mit den Armen umschlungen und seinen Kopf für einen Moment darauf gebettet, weniger aus Schläfrigkeit als vielmehr, um sein Gesicht zu verbergen. Da wurde er vom Geräusch eines sich annähernde Fahrzeugs aufgeschreckt. Es wirbelte im Vorbeifahren Staub auf, den Arr durch wedelnde Handbewegungen vom Eintritt in seine Atemwege zu vertreiben versuchte. Er schmeckte den tauben Wüstensand in seinem Mund. Der vorbeifahrende Geländewagen war als ärztliches Begleitfahrzeug gekennzeichnet. Arr zuckte zusammen. Pilar konnte darin sitzen. Hatte sie ihn hier am Straßenrand erkennen können? Er stand vorsichtig auf, um besser zu verfolgen, was jetzt kam. Das Fahrzeug hielt am Beginn der Asphaltstraße, wo die Stelle der Staffelübergabe war. Eine von den drei aussteigenden Personen war eine Frau. Das musste Pilar sein. Sie trug eine Sonnenbrille. Doch Arr erkannte sie an der Art, wie sie sich bewegte: Den Oberkörper hoch aufgerichtet, den linken Arm in die Seite gestützt und mit dem Rechten dezent gestikulierend. Das war unverkennbar Pilar. Sie trug keinen Arztkittel, sondern weite helle Hosen und eine dünne, dem Wüstenklima angemessene beige Jacke. Nur eine Armbinde wies sie als ärztliche Betreuerin aus. Gegen den Staub trug sie einen Mundschutz. Arr beobachtete von seiner verdeckten Position aus, wie die Ankömmlinge begrüßt wurden. Pilar schüttelte einem der Männer besonders herzlich die Hand. Das musste wohl Hes Anschlussläufer sein. Ihre Gesten wiesen zu den Wolken. Sie sprachen wohl über den drohenden Regen. Aus dem Wagen holte Pilar ihren Medizinkoffer und zwei Stühle. Sie ging nun zügig daran, den Sportler zu untersuchen und zu testen. Das war kein langwieriger Prozess. Aber der Mann musste eine Art Lederhelm aufsetzen, der genau justiert wurde, und Pilar hantierte an einem Gerät unter dem hochgeklappten Kofferraumdeckel des Wagens. Arr konnte sehen: Pilar war in ihrem Element. Was es mit dieser Kopfbedeckung auf sich hatte, wusste er nur zu gut. Unwillkürlich fasste er sich an den Kopf, um nachzuprüfen, ob sein Headset richtig saß. Ach Unsinn! Das hatte er doch im Rucksack verstaut. Es war ein ungewohntes Gefühl, sich frei, ohne diesen leichten Kopfdruck zu bewegen, der von der Messeinrichtung auf dem Schädel ausging. Welche Unmengen an Informationen hatte er von sich preisgegeben, an diese Gehirnabsaugkappe, wie die Klone das Ding ironisch nannten. Dieser Sportler da vorne, der unter eben dieser Art von Kappe die nächsten zwei bis drei Stunden verbringen würde, hatte ja keine Ahnung, was es bedeutete, nicht nur für ein paar Stunden sondern Tag und Nacht mit diesem Ding auf dem Kopf herum zu laufen und von Pilar ausgeschimpft zu werden, wenn man für eine kurze Weile sich von diesem Schweiß- und Körpergeruch stauenden Hut befreite.
Frau Dr. Pilar Fengenberg hatte sich inzwischen auf den zweiten Klappstuhl gesetzt und hielt einen Laptop auf ihrem Schoß. An ihren Kopfbewegungen konnte Arr erkennen, dass sie dem Sportler unter der Kappe Anweisungen für die durchzuführenden Tests gab. Ein paar Kniebeugen, ein paar Schritte gehen, das war praktisch schon alles. Aber den ungewohnten Hut musste der Sportler für die folgende Laufstrecke aufbehalten.

Die Neugier hatte die Teenager aus dem Dorf näher an die medizinischen Kontrollen herangetrieben. Da standen sie nun, immer noch die Hände tief in der Hosentasche und den Mund zu einem blöden Gesichtsausdruck halb geöffnet. Das Medizinerfahrzeug hatte gleich neben einem Übertragungswagen geparkt. Und nun erblickten die Jungen darin einen ziemlich großen Monitor, auf dem der aktive Läufer zu sehen war: Es war He. Er kämpfte gegen Gesteinsbrocken an, musste über sie hinweg springen oder steigen. Sperriger Schotter störte seinen Lauf, der manchmal in Klettern und Krabbeln auf allen Vieren ausartete. Die Bildübertragung stammte von einer Ballonkamera, die den Läufer, geräuschlos über ihm fliegend, verfolgte. Das Monitorbild wechselte hin und wieder auf die Kopfkamera des Läufers über, durch die sein Gesicht in Porträtaufnahme während des Laufens erschien. Arr sah, wie die Jungen plötzlich Richtung Osten zum Himmel hoch schauten. Da war der Ballon zu sehen, der die Läufer begleitete, um sie zu filmen, und um die Messdaten, die während des Laufs erhoben wurden, sicher und zeitgleich zu übertragen. Diese Daten waren allerdings so geschützt, dass niemand, auch nicht die journalistischen Begleiter und nicht einmal der eigene Teamführer sie empfangen und einsehen konnte, bevor sie der Jury und den autorisierten Ärzten als offizieller Wettkampfdatenbestand zur Verfügung standen. Die Juroren saßen in Cusco und Quito. Nach der bevorstehenden Zwischenentscheidung in Cusco hatten alle Wettkampfrichter sich sofort in Quito zu versammeln, um nach der zweiten Halbzeit des Rennens das Siegerteam zu bestimmen und zu krönen. Arr schaute angestrengt in die östliche Wüstenebene und glaubte dort sich etwas bewegen zu sehen. Das musste He sein. Denn was sonst würde sich gegen das Braun-Grau der toten Trockenheit deutlicher abheben als Hes blaue Shorts. Arrs Puls raste. Das war praktisch er selbst, der da herangelaufen kam, konzentriert auf einen ausgeglichenen Atemrhythmus, Überanstrengung vermeidend. Da näherte sich ihm der zweite Träger seines Ichs, seines, Arrs und Hes gemeinsamen Bewusstseins. Konnte irgendjemand nachvollziehen, was es hieß, plötzlich von seinem zweiten Körper getrennt zu sein? Nur Siamesische Zwillinge, die durch Operation getrennt wurden, konnten da mitreden. Aber solche Trenn-Operationen wurden an Kleinkindern und nicht im Erwachsenenalter der Zwillinge durchgeführt. Arr aber musste erleben, von seinem Bruder nach über 20 Jahren gemeinsamer Bewusstseinsbildung und Wirklichkeitsverarbeitung getrennt zu werden. So stellte sich ihm jedenfalls seine Klonbruder-Situation dar – rein psychologisch gesehen, versteht sich.

Diejenige Ärztin, die diese mentale Verschmelzung der Brüder bewirkt hatte, saß kaum mehr als 100 m von Arr entfernt. Der blaue Punkt in der den gesamten Osthorizont überziehenden Ödnis tanzte auf und ab und schien aus einem schlierenden See unbestimmbarer Luftspiegelungen hervor zuwachsen. Die untergehende Sonne gab der Szene eine pathetische Vergoldung. So magisch das Landschaftsbild sich auch gestaltete, das einzig Lebendige darin war der sich nähernde Läufer, wenn man von dem auffällig gefärbten Ballon absah, der zwar einen beweglichen Farbklecks ins Bild schob, aber in Wahrheit leblose Materie war. Da kommt He, da kommt He, hämmerte es ständig in Arrs Gehirn. Aber er durfte jetzt nicht aufspringen und seinem Bruder entgegenlaufen. Nicht einmal Winken war angebracht. Selbst ein jubelnder Fan und begeisterter Applaudierer wäre bei den Leuten hier auf Unverständnis gestoßen. Welcher Idiot jubelt schon hüpfend einem Langstreckenläufer aus 100 m Entfernung zu, während dessen Mannschaftsfreunde noch geduldig auf seine Ankunft warten und ein paar Einheimische mit skeptischer Zurückhaltung dem Geschehen zuschauen, ohne das Spektakuläre an dem Ereignis erkennen zu können? Dennoch richtete Arr sich jetzt auf. Wenn er jetzt mit He elektronisch verbunden wäre, dann vernähme er jetzt seinen brausenden Atem durchs Mikrophon, könnte die schweißfeuchte Stirn und die bräunliche Staubschicht auf seiner Gesichtshaut via Kopfkamera erkennen. Arr würde ihm jetzt brüderlich sanft mit Ermutigungen im Ohr liegen. Wie bei den Trainings würde er zwar auf gesprochene Antworten von He verzichten, ihm aber ein Handzeichen, ein Kopfnicken oder -schütteln als Antwort abverlangen auf Fragen nach seinem Befinden oder dem Wunsch nach Unterstützung von ferne. Denn, egal wie weit er von ihm entfernt war, von dort aus, wo er He per Funkverbindung im Normalfall begleitete, konnte er notfalls alle Art von Hilfe herbeirufen. Er war gewöhnlich genauso in alle Netzwerke eingebunden wie He selbst. Aber jetzt konnte er mit ihn nicht in Kontakt treten. Er durfte sich ihm nicht einmal ankündigen.Jetzt konnte er ihn nur von Weitem sehen. Arr pirschte sich näher an die Straße heran. Da die Aufmerksamkeit aller Anwesenden der bevorstehenden Staffelübergabe galt, wagte er es, seinen Rucksack zur Brust zu nehmen und zu einem der geparkten Fahrzeuge herüber zu laufen, um sich dort näher am Geschehen zu verstecken. Vorsichtig hob er den Kopf über das Autodach. Gerade lief He ein, was nichts anderes bedeutete, als dass er den Markierungsstock mit dem Dreiecksfähnchen erreichte, an dem der Anschlussläufer wartete. He holte im Laufen aus einer naturfaserigen Umhängetasche, in der er auch eine Wasserflasche mitführte, ein Bündel Knotenstränge heraus und hielt sie triumphierend vor sich her, bis er dem Nachfolger am Dreiecksfähnchen um den Hals fiel.

He lächelte aus seinem Wüstenstaubgesicht, vollzog das Übergaberitual, wünschte seinem startenden Teampartner Hals- und Beinbruch und schaute dem Davonlaufenden eine Weile erleichtert nach. Dann wandte er sich dem kleinen Inkapfadläuferempfangskomitee zu, das ihn fürsorglich mit einer Goldfolie bedeckte, ihm zu trinken gab und schließlich mit Fragen bedrängte, die er in zwei Kameras hinein beantwortete. Dann erkannte er Pilar, als sie zur Gruppe der Glückwünscher hinüber ging, abwartete, bis He sie wahrgenommen hatte, und ihm dann mit ihrer spröden Herzlichkeit gratulierte. Geduldig wartete sie einen Moment ab, um ihn ans Medizinfahrzeug zur Fixierung der gewonnenen Läuferdaten in ihrem Computer zu bitten. Dort ließ sich He in einen der bereitgestellten Stühle sinken und erlaubte seiner fachmedizinisch autorisierten Adoptivmutter alle erforderlichen Messungen an seinem Körper vorzunehmen: Entnahme von Speichelprobe, Blutstropfen, Puls- und Blutdruckmessung, Atemluftanalyse. Auch den Kopfbügel zum abgreifen der Hirndaten übergab er ihr. Arr schaute aufgeregt von seinem Beobachtungsposten aus zu. Nur zu gern hätte er jetzt mitgehört, was sie miteinander besprachen. Im Normalfall hätte er alles Wort für Wort, Gesichtsausdruck für Gesichtsausdruck, Geste für Geste mitbekommen. Ja, er hätte sich die ganze Szene sogar noch einmal wieder anzeigen lassen können, wenn, verdammt noch mal, ihr elektronischer Gehirnkorridor, der seine zwei Gehirnhälften mit denen von He verband, nicht gekappt worden wäre. Ruhe bewahren, sagte er sich. Er kauerte auf dem Boden und wartete die einbrechende Dunkelheit ab. Die Crew schaltete die Strahler ein, die eine zusammen sitzende Gruppe in einen Lichtkegel hüllte, als säßen sie hier draußen in einem Strahlenzelt. Der erste Übertragungswagen machte sich zur Abfahrt bereit. Arr hatte Glück gehabt, dass He die Nacht hier im Zelt zu verbringen beabsichtigte. Wohingegen Pilar schon bald aufbrach, um heute noch am nächsten Wechselpunk zur Stelle zu sein. Dann würde sie von Dr.Dinderich abgelöst und könnte sich dort zur Nachtruhe begeben. Nun waren nur noch zwei Fahrzeuge auf dem Platz zurückgeblieben und außer He noch drei Teammitglieder, die ihn am nächsten Morgen mitnehmen würden, um ihn am übernächsten Wechselpunkt für eine weitere Staffelstrecke wieder startklar zu machen. Diese Pläne kannte Arr natürlich nicht. Er stellte nur mit Genugtuung fest, dass sein Bruder heute Nacht hier anzutreffen war. Dafür hatte sich das verkrampfte Warten gelohnt. Inzwischen hatte sich die Geschäftigkeit gelegt, obwohl es noch relativ früh vor Mitternacht war. Die Dorfjugend hatte sich zurückgezogen. Offensichtlich war nichts Neues mehr hier von den Fremden zu erwarten. Eine der Lampen ließ die Crew brennen, während einer von ihnen, im Auto sitzend, die Nacht über auf die Utensilien der Sportveranstalter aufpasste. Klar, dass der irgendwann dem Schlaf nachgab. Wo war He? Es waren drei Zelte aufgestellt worden, in denen jeweils zwei Personen schlafen konnten. Schlief er alleine? Arr schlich sich an die drei nebeneinander liegenden Schlafzelte heran. Gespeist wurde das Licht von einer Langzeitbatterie, die am nächsten Tag durch die Solarzellenbeschichtung der Fahrzeuge wieder für volle 24 Stunden aufgeladen wurde. Es war so still, als hätte die Wüste auf geräuschlose Bauchatmung umgestellt. Arr legte seinen Rucksack hinter dem ersten Zelt ab. Wenn er richtig mitgezählt hatte, waren vom Team noch vier Männer hier geblieben, die die beiden Autos morgen mit den restlichen Geräten übernehmen und zum nächsten Posten fahren sollten. Einer von ihnen saß bereits in einem der beiden Wagen und las Sportberichte von seinem Tablett-Monitor, der Internetverbindung hatte. Vom erhobenen Fahrersitz aus hatte er einen guten Überblick über das vom Halogenstrahler beleuchtete Lager. Dort standen die Dinge, die sie morgen früh noch vor dem endgültigen Aufbruch benötigten. Alles, was sie zum Herrichten und Einnehmen des Frühstücks und zur Sicherstellung der Kommunikation brauchten, hatten sie sich erspart, ins Fahrzeug einzupacken. In ein paar Stunden mussten sie es eh wieder herausnehmen.


Endlich zusammen


Arr horchte gespannt auf die Schläfer in den Zelten, die von innen verschlossen waren. In welchem schlief He? Arr musste es darauf ankommen lassen und es an einem versuchen: „Hey, He“, zischte er vernehmbar und trommelte vorsichtig an die Zeltwand, bis sich tatsächlich darin etwas regte. Der Reißverschluss öffnete sich am Zelteingang, ein Kopf streckte sich heraus und blinzelte Arr an. Es war nicht sein Bruder. Arr schluckte erschrocken. „Was ist los, He? kannst du nicht schlafen?“ bekam er von dem aufgescheuchten Zeltbewohner zu hören. Arr wurde schnell klar, dass er für seinen Bruder gehalten wurde. „Ach, nichts“ stotterte er, „ich musste nur pinkeln.“ Damit schob sich ein zweiter Kopf aus dem Zelt und schaute ihn an. „O.K.“, sagte der, „schlafen wir weiter“, und zog den ersten wieder mit sich zurück ins Innere. Damit war für Arr klar: He musste allein in einem der beiden anderen Zelte sein. Vorsichtig ging er zum Nächsten und schielte zu dem Mann im Fahrzeug herüber, dessen Gesicht im Widerschein seines Monitors gut zu sehen war. Der würdeihn nicht stören. Am Zelt angelangt, fand er es offen. Arrs Herz schlug höher. Er steckte vorsichtig seinen Kopf hinein. Doch da war niemand. Also war He in dem dritten Zelt. Fast geräuschlos schaffte Arr es dorthin. Doch auch hier war die Eingangsplane nicht verschlossen. Er schob sie auseinander. Im schwachen Lichtschein erkannte er ein menschengroßes Schlafsackbündel. Arr kroch behend ins Zelt hinein und legte sich still daneben. Sein Herz raste und er versuchte seinen Atem zu bremsen. Den Kopf auf den Ellenbogen gestützt betrachtete er das Gesicht seines schlafenden Zwillingsbruders direkt neben ihm zum Greifen nah, was ihm sonst sein ganzes Leben lang nur auf elektronischen Bildschirmen gezeigt wurde. Arr sprach ihn an, wie sie das untereinander immer taten, wenn einer den anderen Zwillingsbruder aufweckte, um mit ihm zu reden. „Wach auf, es gibt was Wichtiges“ raunzte er ihn vorsichtig an. Hes Unterbewusstsein kannte diese Stimme bestens und reagierte darauf wie gewohnt. Ohne die Augen zu öffnen antwortete er: “Ja, was ist?“ langsam hatte er auf Wachbewusstsein umgeschaltet und griff sich an den Kopf, um das vermeintlich aufsitzende Headset zu greifen. Aber da war nichts. Jetzt erst wurde He richtig wach, riss die Augen auf und realisierte, dass er in einem Zelt lag. Hatte er geträumt? „Wir sind zusammen“, flüsterte Arr ihm ins Ohr. „Wir sind immer zusammen“, murmelte He mit schlaftrunkener Stimme zurück, „lass mich schlafen, wenn es nichts Wichtiges gibt“, immer noch glaubend, die Kommunikationsverbindung zu Arr bestünde wie gewohnt. Nun legte Arr seine Hand auf Hes Kopf, dass sie beide wie elektrisiert hochfuhren. He tastete ins Dunkel des engen Zeltraums und bekam Arrs Arm, dann seinen Kopf zu spüren. Jetzt riss er seinen Oberkörper hoch, suchte hastig nach der neben ihm liegenden Taschenlampe, bekam sie zu fassen und leuchtete Arr ins Gesicht. Mit aufgerissenen Augen starrte er sein Klon-Ebenbild an, brachte aber kein Wort über die Lippen. Arr löste die Erstarrung, indem er ihn schweigend in den Arm nahm. Stirn an Stirn verharrte er ein paar Sekunden mit ihm. Tränen stiegen in ihm auf, so überwältigt war er, seinen Bruder in Fleisch und Blut und Körperduft zu erspüren. Er schluckte: „Ich konnte es ohne dich nicht mehr ertragen.“

Langsam begriff He, was mit ihm hier vorging.
„Du bist mir nachgefahren, nur weil unsere Verbindung für ein paar Wochen unterbrochen war?“ He schob Arr von sich und rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht. Dann schaute er zu seinem Ebenbild auf, das im Licht der Taschenlampe mit einem hingebungsvollen, flehenden Gesichtsausdruck noch immer unwirklich auf ihn wirkte. Aber dann überwältigte auch He die Außerordentlichkeit der Begegnung, er streckte seine Hand aus und kniff sanft in die tränenfeuchte Wange seines Klonbruders. Arr schaute ihn sorgenvoll an:
„Wird unsere Verbindung wirklich nur für ein paar Wochen unterbrochen oder sollen wir für immer getrennt werden?“, fragte Arr, noch immer schluchzend. „Wie kommst du denn darauf?“, He war irritiert.
Arr fuhr fort: „Was hat Pilar mit dir alleine vor? Die Teilnahme an diesem Staffellauf ist doch nur ein Vorwand.“
„Vorwand“, wiederholte He verständnislos, „was meinst du damit, Vorwand wofür?“
„Das ist genau meine Frage, warum wirst du von mir abgekapselt? Was ist denn anschließend an den Lauf mit dir geplant? Werden sie dich irgendwohin bringen?“ Noch bevor Arr fortfahren konnte, antwortete He darauf: „Niemand kapselt dich ab und nirgendwohin werde ich gegen meinen Willen fortgebracht“, dann holte er tief Luft und ging mit Geduld auf Arr ein: „Warum hat Pilar so großen Wert darauf gelegt, dass wir nur eine Identität haben? Sie wollte erreichen, dass wir ein überindividuelles Bewusstsein sind, das an zwei Orten gleichzeitig sein kann, das von zwei Körpern getragen wird und dadurch seine Fähigkeiten ungemein erweitert. Wir sollten stärker sein als zwei herkömmliche Individuen.“
Arr nickte und He fuhr fort: „Unsere Fähigkeit, uns wirkungsvoll zu ergänzen, beruht auf unserer physischen und genetischen Gleichheit. Aber auch auf der besonderen Erziehung, die wir genossen haben. Wer kann seine Gefühle und Weltsichten besser auf einander abstimmen als diejenigen, die von Geburt an mit gleichen Eigenschaften ausgestattet sind? Bei getrennt aufwachsenden eineiigen Zwillingen wird immer wieder das Phänomen beobachtet, dass sie, ohne voneinander zu wissen, zu gleichen Entschlüssen aufgrund derselben Vorlieben gelangen. Unsere Erzeuger wollten diese Fähigkeit von vornherein bei uns ausbauen. Wir sollten lernen, weltumspannend Wirklichkeit zu bewältigen, die von mehr als einem Körper erlebt, und von mehr als einem Gehirn verarbeitet wird.“

„Warum sind dann immer nur zwei Klone zu einer Person zusammengefasst, ließe sich das nicht noch steigern durch drei, vier oder mehr?“
„Weiß ich nicht. Zwei ist die Basis von Vielfachheit. Vielleicht haben sie sich daran orientiert, dass es auch zwei Gehirnhälften gibt, also ein Mensch mehr oder weniger durchgängig zweiseitig ist und sich zu zweit möglicherweise zu einem Gebilde aus vier symmetrischen Hälften harmonisch zusammenfügt. Warum sollten die, die uns über Jahrzehnte zusammenwachsen ließen uns plötzlich gegenseitig unerreichbar machen. Dafür gibt es doch keinerlei Anzeichen. Deine Angst, dass ich dir entzogen würde, ist unbegründet.“ Gerne übernahm Arr diese Sicht der Dinge wie eine Erlösung. Er schmiegte sich an seinen Bruder.
He fuhr fot: „Das andere, was Pilar und Kollegen auf jeden Fall vermeiden wollten, war, dass wir in Konkurrenz zueinander treten, dass wir unsere Kräfte darauf verschwenden, die gleichen Lebensaufgaben parallel zu lösen. Sie wollten, dass wir uns systematisch ergänzen, dass jeder unterschiedliche Aufgaben und Herausforderungen an sich zieht, um sie dann aber gemeinsam zu bestehen. Darum die täglich 24 Stunden lang aufgezwungenen Kommunikationsverbindungen. Sie wollten, dass unsere Gehirne auf doppelte Präsenz und Vereinigung unserer Bewusstseine trainiert werden. Ich frage mich, oder besser“ - He lächelte – „ich frage uns: haben sie das erreicht, oder noch besser: Haben wir deren Ziel erreicht? Sind wir wirklich anderen Menschen überlegen, die ohne diese Auflagen und Zusatzbelastungen aufgewachsen sind? Mit Sicherheit sind Millionen unserer Nervenzellen anders gestaltet als bei - sagen wir: normalen Menschen. Ich glaube, wir würden Pilar eine Freude machen, sie danach zu fragen und ihr Gelegenheit geben, ausgiebig über die spezifischen Ausprägungen unserer Gehirnströme zu referieren.“ He lachte. Er hatte sich rücklings auf seiner Schlafstelle ausgestreckt und heftete seinen Blick an die Zeltdecke.
Arr mochte von seinem Fleisch gewordenen Spiegelbild nicht abrücken. Er hatte seinen Kopf seitlich auf Hes Schulter gelegt. Mit der rechten hielt er den Haarschopf, mit der Linken die Brust seines Bruders fest. Er wollte beide Hände voll lebendige, körperwarme Brudernähe spüren und am liebsten nicht wieder hergeben.
Die Innigkeit der auf engem Raum aneinander geschmiegten Männer schien im Widerspruch zu stehen zu ihrer beeindruckenden Körpergröße, ihrer kraftstrotzenden athletischen Gestalt und griechisch-chinesischer Schönheit.
Doch die Zartheit ihrer millionenfach verästelten Bewusstseins- und Unterbewusstseinsverknüpfungen erwies sich als eine weit besser haftende, elastischere und belastbarere Verschmelzung als jede andere psychische Bindung, die Menschen einzugehen vermochten.
 Zweifellos machte das die Klonpaare überdurchschnittlich stark. Arr genoss das Glück seiner in He verkörperten Selbstspiegelung. Nun hatte die Zuversicht ihn wieder. „Glaubst du, dass unsere Gehirne von jetzt an, da wir uns zum ersten Mal haptisch und geruchlich erlebt haben, anders ticken werden? Das war doch Pilars große Befürchtung, dass wir durch nur eine physische Begegnung, in der wir uns berühren, umarmen und riechen könnten, unsere besondere mühsam entwickelte Doppelpräsenz-Prägung schlagartig verlieren würden!“
„Das hat sie immer behauptet. Beweisen konnte sie aber es nie. Ich könnte mir jedoch vorstellen, dass, wenn sich so eine Begegnung wie heute vor 10 Jahren ereignet hätte, tatsächlich die Verschmelzung zu unserer gemeinsamen Persönlichkeit gestört worden wäre. Jetzt, wo wir erwachsen sind, hat das vermutlich keine negativen Auswirkungen mehr.“

He wurde wegen der verstreichenden Zeit langsam unruhig und versuchte Arr klarzumachen, dass er so unbemerkt, wie er gekommen war, die Szene wieder verlassen musste. „Wenn du dich in der Nähe meines Teams sehen lässt, kann ich meinen Lauf abbrechen. Sie werden sofort Verdacht schöpfen, dass du an meiner Stelle gelaufen bist. Als Erstes werden sie unsere Papiere überprüfen. Ach, übrigens, welchen Pass hast du denn dabei, den chinesischen oder den europäischen?“
„Den chinesischen. Ich komme ja von China und außerdem wusste ich, dass du dich mit dem europäischen Pass für den Lauf ausgewiesen hast.“ He reagierte nervös: „Dann werden sie dich nach dem China-Chip absuchen. Solche Geräte gibt es hier auch, ich meine, in der nächst größeren Stadt, zum Beispiel in Antafagasta, wo ein chinesisches Konsulat ist. Dadurch könnte unsere Doppelidentität auffliegen. Pilar käme in Schwierigkeiten, gar nicht auszudenken, welche Kreise das ziehen würde.“
„Jetzt mach’ mal halblang. Das hier ist südamerikanische Provinz. Kein Mensch käme hier auf die Idee, unsere Identität mithilfe der Spinnenfrau zu überprüfen.“
„Wie auch immer, Arr. Du musst sehen, dass du noch vorm Morgengrauen hier wieder verschwindest. In unserem Wagen kannst du nicht mitfahren, das dürfte wohl klar sein. Nicht weit von hier gibt es eine Siedlung, bis dahin läufst du zirka eineinhalb Kilometer die Straße lang. Bestimmt fährt ein Bus von dort.“
„Ich werde wieder zur Sternwarte zurückkehren, bevor das Astronomie-Seminar dort endet. Es dauert noch bis übermorgen. Lass mich aber jetzt noch ein paar Stunden bei dir sein, dann ziehe ich los.“ Arr schmiegte sich an He und schloss die Augen. Dieses Gefühl von Nähe wollte er sich nicht mehr nehmen lassen. Wohltuend ließ er sich von brüderlicher Harmonie überwältigen, bis ihn der Schlaf hinwegtrug.
Auf das Zeltdach trommelte leise der erwartete Regen, nur ein erfrischender nächtlicher Schauer ohne Sturm und Gewitter. He verweilte mit offenen Augen neben ihm. War es ein Glück, derart eng mit einem gleich gestalteten Bruder verbunden zu sein? Würde dieses Band allen Zerreißproben widerstehen? Wie würde es sich entwickeln, wenn sie beide im All wären, wenn sie beide für immer die Erde verlassen hatten?
Arr wachte unerwartet auf und hob den Kopf, um He neben sich anzuschauen. „Woran denkst du?“, fragte er besorgt.
„An nichts. Komm, lass uns schlafen. In zwei Stunden musst du hier raus.“
Als Arr wieder eingeschlafen war, träumte er einen seltsamen Traum. Außer Atem lief er hinter He her und versuchte, ihm seinen Pass wie einen Staffelstab zu übergeben, aber das war nicht auf der Erde, sondern irgendwie in den Wolken, so dass er trotz seiner heftigen Anstrengungen nicht vorwärts kam, er fühlte keinen Grund unter den Füßen. Und He schien ihn gar nicht zu bemerken, bis er sich endlich umdrehte und auf ihn wartete. Doch Arr kam trotz heftiger Anstrengung nicht an ihn heran. Dann kam He auf ihn zu und rief ihn flüsternd beim Namen: „Arr, Arr“. Da wachte er auf, denn He hatte sich über ihn gebeugt und ihn tatsächlich angesprochen: „Arr, Arr, wach auf. Du musst jetzt losgehen.“
Arr schaute ihn noch etwas benommen an. Dann raffte er sich zusammen: „Okay“, sagte er und lächelte He an, umschlang seinen Hals zum Abschied und sagte triumphierend: „Ich werde dich nie aufgeben“.
Arr kroch vorsichtig aus dem Zelt. Die Nachtkälte der Wüste ließ ihn fröstelnd erschaudern. Er schulterte seinen Rucksack und stahl sich, während er zu dem schlafenden Wachposten im Jeep herüber spähte, in gebückter Haltung aus dem Sportlager. Dann zog er die Straße entlang, wie He es ihm gesagt hatte. Vielleicht würde ein vorbeikommendes Fahrzeug ihn nach Norden mitnehmen. Aber da tat sich nichts. Der Fußweg wurde ihm nicht erspart. Ein erdiger Geruch lag in der Luft wie nach einem Regenschauer.