Kurierter Alien
Pilar fand sich schnell in ihrem neuen Arbeitsfeld in Chile zurecht. Mit den Kollegen kam sie bestens klar, nachdem die Wettkampfleitung die Arbeitsverteilung der ärztlichen Begleitung festgelegt hatte. Sie war stolz auf He, den sie mehrmals im Wechsel mit anderen Ärzten zu untersuchen hatte. Für sie waren die Aufgaben immer dieselben: Kleine Mengen Blut entnehmen, kurzer Bodycheck, Abgleich mit eingegangenen Daten aus der elektronischen Messerfassung über die Kopfbedeckung, kurze medizinische Begutachtung und schließlich die Übermittlung ihrer Ergebnisse an die Wettkampfzentrale und die lokale Archivierung auf den mitgeführten Geräten. Auf diese Weise erhielt Pilar automatisch von allen von ihr betreuten Wettkampfteilnehmern die gewünschten Messwerte auch für ihre Vergleichsstudie. Was die Wiederbelebung ihres eigenen Wissenschaftsprojekts betraf, da konnte sie mit Effekt von Hes Teilnahme am Inka-Lauf höchst zufrieden sein. Kein Zweifel, sie profitierte von diesem Sondereinsatz. Wer allerdings unter der Ausnahmesituation des Inka-Laufs zu leiden hatte, das war Arr. Hes Abwesenheit war ihm unerträglich.
Über Wochen keinen direkten Zugang zum Bewusstsein seines Bruders zu haben, war für ihn kaum vorstellbar. Unterbrechungen ihrer stehenden Verbindung von Kopf zu Kopf hatte es in der Vergangenheit höchstens mal für ein paar Stunden gegeben, wenn einer von beiden in einer Prüfung oder in einer Veranstaltung war, wo man nicht einmal miteinander flüstern konnte, oder, natürlich, wenn einer schlief. Aber selbst dann konnte Arr seinen Bruder immer noch über die Kamera sehen und sich vergewissern, dass es ihm gut ging. Eine Verbindungsunterbrechung kam Arr so vor, als sei seine Wahrnehmung zur Hälfte taub geworden, als würde aus seinem Erlebnishorizont eine halbe Wirklichkeit wegbrechen und sich ihm verschleiern. Der Wahrnehmungsverlust durch diese Vernebelung war äußerst beunruhigend und warf beängstigende Fragen auf: Was wäre, wenn He etwas zustieß?
Dabei war Arr gar nicht ängstlich um seinen Bruder. Denn der war wie er selbst risikofreudig, heftig und vehement. Beunruhigend waren nicht die Gefahren, in die He sich durch die Teilnahme an dem martialischen Staffellauf begeben mochte. Dazu hätte Arr ihn wahrscheinlich noch ermuntert. Nein, bedrohlich war für Arr, dass ihm der gewohnte Einblick in das, was da mit seinem zweiten Ich vor sich ging, verwehrt wurde.
Er fühlte sich so bedrückt wie vor der Narkotisierung auf dem Operationstisch, wissend, dass ihm die Kontrolle über das Geschehen um seinen Körper entzogen wird.
Denn mit seinem Zwillingsbruder verschmolzen zu sein, empfand Arr als eine Naturgegebenheit, die er nicht hinterfragte. He war ein Stück von ihm, das er keine Minute seines Seins unberücksichtigt lassen konnte, sei es bewusst oder im Unterbewussten.
Vor einiger Zeit warf Arr urplötzlich die Frage auf, ob sie überhaupt echte Menschen seien. „Sag mal, bist du dir eigentlich sicher, dass wir echte Menschen sind?“, fragte er He.
„Wie kommst du denn darauf? Zuviel Science Fiction gelesen, stimmts?“
„Nein, ehrlich“, Arr blieb hartnäckig, „wir sind anders als normale Menschen. Wir, du und ich, oder auch Ka und Lu, wir sind ganz andere Wesen, weil wir ständig an zwei Orten gleichzeitig sind. Wir sind Monster mit vier Augen, vier Ohren und vier Gehirnhälften“.
„..und zwei schwulen Schwänzen, nicht wahr?“ machte He sich lustig über ihn.
„Ach bleib doch mal ernst. Allein unsere Doppelpräsenz macht uns zu ganz neu gestrickten Wesen. Das hat mit schwul und so gar nichts zu tun. Wir sind zwar von menschlichem Fleisch und Blut, wurden aber ganz anders programmiert. Denn mir kommt es so vor, dass uns die Menschen kaum wirklich verstehen.“
He versuchte seinen Bruder zu besänftigen: „Das meinst du nur, weil Pilar uns bei jeder Gelegenheit erzählt, dass wir etwas Besonderes sind. Stimmt ja auch irgendwie.“
„Siehst du! Ich habe das Gefühl, dass wir von den Menschen gar nicht mehr als ihres gleichen angesehen werden. Und da wir ohne Eltern gemacht wurden, kann man nicht wissen, was sie in unsere Chromosomen eingebaut haben.“
„Jetzt fang aber bitte nicht wieder damit an, wir wären Aliens oder was weiß ich. Pilar hatte dich doch deswegen vor zwei Jahren in psychologische Behandlung gegeben. Haben die Seelenklempner es nicht geschafft, dir die Flausen aus dem Kopf zu jagen?“
„Ach Quatsch. Du hast es ja selbst miterlebt: Der Psychodoktor, der mich behandeln sollte, durfte ja nicht einmal erfahren, dass ich ein Klon bin. Der hat dauernd von Identität, schwuler Existenz, Vaterverlust und so weiter gefaselt. Nach der zweiten Sitzung hat es mir gereicht. Ich habe, wie du weißt, die Behandlung abgebrochen. Wenn einer ohne das Erbgut seiner Mutter entstanden ist, dann hat es keinen Zweck, ihm das Gegenteil einreden zu wollen. Die DNA beweisen ja alles. Schließlich hat auch Pilar verstanden, dass der Psychologe wohl kaum dabei helfen konnte, etwas zu bewältigen, dessen Tragweite er überhaupt nicht kannte.“
„Er war ja auch nur ein Mensch“, warf He ironisch ein.
„Ja, genau“. Jetzt musste auch Arr lachen: „Ich habe mich ja nach einiger Zeit wieder eingekriegt. Denn in Peking an der Uni laufen derart extreme Freaks herum, dass ich mir im Vergleich zu denen inzwischen völlig normal vorkomme.“
Arr hatte gehofft, bei seinem Zwillingsbruder Mitleid für den bevorstehenden Trennungsschmerz zu erwirken. Aber jetzt war ihm klar, dass er von He nicht erwarten konnte, seinetwegen die Teilnahme am Lauf aufzugeben. Er spürte, dass es auch keinen Zweck hatte, He sein Leiden vorzujammern. Es gab keinen Zweifel, er musste selbstständig etwas unternehmen. Er beschloss, heimlich seinen Bruder in der Zeit des Laufs, also wenn ihre gewohnte Kommunikation unterbrochen war, aufzusuchen. Es sollte das erste Mal sein, dass er ihm physisch begegnete.
Das Ticket zum Bruder
Zu erst musste er sich die Berechtigung und das Ticket zu der Reise dorthin beschaffen. Arr wollte seinen chinesischen Klonvater bitten, ihm eine Einladung zu einer Astronomieveranstaltung im chilenischen Observatorium von Paranal zu verschaffen. Von diesem Konferenzort aus, hoffte er, He heimlich treffen zu können. Über den Parkour des Inkalaufs wusste er weitgehend Bescheid. Wenn er erst einmal im Lande war, konnte er herausfinden, wie weit es die Läuferteams vom Süden her kommend geschafft hatten. Schließlich berichteten die Medien ja über den Extremsportevent. Einmal vor Ort dürfte es ja kein Problem mehr sein, herauszufinden, wo He sich gerade aufhielt.
In Peking versuchte er, von seinem Studentenzimmer aus Li, seinen Genspender, übers Telefon zu erreichen. Das hatte allerdings keinen Erfolg. Also hinterließ er ihm eine Mitteilung und bat um Rückruf. Arr war sich sicher, dass sein Klonvater nicht darauf reagieren würde. Mit ihm war es wie verhext. Er war sein generationenversetztes Abbild, also ihm näher als ein Vater seinem Sohn.Und doch hatte der Alte sich nie um ihn gekümmert, sondern den Kontakt zu ihm gemieden. Umso überraschter war er, als plötzlich ein Rückruf von Li kam und ihn freundlich mit „mein Junge“ ansprach. Das kam Arr schon verdächtig vor. Und tatsächlich, als Arr sein Anliegen vortrug, da winkte Li ab. Der hatte den Nerv zurückzufragen: „Warum wendest du dich deswegen an mich? Ich habe doch keinen Einfluss auf das Observatorium.“
„Doch, hast du“, insistierte Arr, „denn alte Raumfahrtgrößen wie Cui Jijun und Jiao Weixin werden dort unter anderem auftreten. Zu denen hast du doch Kontakt und kannst Verbindung mit ihnen aufnehmen.“
„Nein, Arr. Ich habe zur Zeit andere Sorgen. Wende dich an deinen Adoptivvater. Der wird dir sicherlich behilflich sein.“ Damit brach Li das Gespräch ab und Arr hatte wieder einmal erleben müssen, dass er von seinem Erbgutvater nichts zu erwarten hatte.
Arr machte die Anrufe während Hes Siegener Nachtschlafenszeit. Neun Stunden betrug die Zeitdifferenz. Er wollte vermeiden, dass He, der ja ständig mit ihm verbunden war, von seinem Vorhaben erfuhr. Zwar hätte Arr nach gut 25 Jahren Dauerverbindung sein Kommunikationsset vorübergehend einfach abnehmen können, um die Aufzeichnung seiner Reisevorbereitungen zu verhindern. Aber gerade jetzt, wo es ihm darum ging, den wahren Hintergrund seiner - wie er glaubte - geplanten Trennung von He zu ergründen, durfte er nicht selbst ein außerplanmäßiges Schweigen ihrer Kopf-zu-Kopf-Verbindung herbeiführen. Pilar hatte gar nicht darauf bestanden, dass die Zwillinge im Erwachsenenalter die Doppelpräsenz beibehielten. Sie wäre schon damit zufrieden gewesen, die volljährigen Zwillingen sporadische zu untersuchen. Die Effekte zwei Jahrzehnte währender Zweifachanwesenheit konnte sie damit weiterhin ausreichend erfassen. Womit sie selbst nicht gerechnet hatte, war, dass die Wirkung des Doppelpräsenzprogramms bei den Jungen ihre Erwartungen an eine die Kontinente übergreifenden Bewusstseinsverschmelzung weit übertraf: Die Zwillinge wollten einfach nicht mehr voneinander los, obwohl sie sich ja noch nie berührt oder auf Armlänge gegenübergestanden hatten. Ihre Gehirne hatten sich den Erlebnishorizont des jeweils anderen durch die ununterbrochene audiovisuelle Kommunikation vollkommen einverleibt. Das galt ganz besonders für Arr und He, bzw. es war Arr, der am meisten davor Angst hatte, dass sein Alter Ego ihm entglitt oder genommen wurde.
Lis Argument stimmte: Auf dem Papier war Ino sein Vater, wenn auch nur Adoptivvater. Der Unterschied spielte keine Rolle. Also rief Arr ihn an, jedoch ohne zu wissen, in welchem Zeitzone er sich momentan aufhielt. Also wählte er einen Zeitpunkt, an dem He so weit abgelenkt war, dass er nicht darauf achtete, was gerade über seine Zwillingsgehirnhälften lief. Das war beispielsweise dann der Fall, wenn mehrere Leute gleichzeitig auf He einredeten, oder wenn er die Kommunikationsbrille kurzfristig absetzte. Beides konnte eintreten, wenn He nach dem Teamtraining mit anderen Sportlern unter der Dusche war. Diese Zeiten kannte Arr. Prinzipiell konnte He sich die Aktivitäten seines Bruders jederzeit aus dem Archiv vor die Brille holen. Aber damit war nicht zu rechnen, wenn sich vor und nach den Auszeiten nichts Spektakuläres andeutete. Das kostete gewöhnlich zu viel Zeit, auf unwichtige Vorkommnisse des Zwillings zurückzuspoolen, die ihrer gegenseitigen Live-Dauerbeobachtung entgangen sein konnten. Also wählte er einen solchen Zeitpunkt, um nun seinen Adoptivvater Ino telefonisch um Unterstützung für eine Einladung zur astronomischen Fachtagung im Paranal zu bitten. Erst beim zweiten Versuch kam Arr zu ihm durch. Ino wollte gleich ohne Umschweife wissen, worum es ging. Auch seine Reaktion auf Arrs Bitte blieb unterkühlt: „Kann sich denn Li nicht darum kümmern. Der ist doch in deiner Nähe und er kennt die einschlägigen Leute.“
„Er will oder kann aber nicht. Vielmehr verweist er mich an dich, denn du wärst mein Vater“, antwortete Arr.
„Ach ja, der Schlaumeier“, seufzte Ino.
Arr erklärte, dass das Thema der Tagung mit dem Titel „Die strategische Bedeutung der Oortschen Wolke“ sehr wichtig war. Zumal alte chinesische Haudegen der Astronautik wie der inzwischen im Ruhestand befindliche Cui Jijun, der jahrzehntelang den Raumbahnhof Jiuquan geleitet hatte, und auch Vertreter des Verteidigungsministeriums als Referenten vorgesehen waren.
„Wenn du an so etwas teilnehmen willst, dann musst du dich allerdings fest in der Hand haben und nicht Dinge herumspinnen, wie, du seist ein Alien oder so ähnlich“, versuchte Ino ihn herauszufordern.
„Aber das ist doch schon über zwei Jahre vorbei. Es ist ungerecht, mir diesen Ausraster immer wieder vorzuhalten“, antwortete Arr. Dann verstieg er sich aufs Betteln: „Ino, ich bin in meinem Postgraduiertenstudium hier am Pekinger Institut für Astronomie und Raumfahrt zur Ausbildung zum Astronauten. Die Tagung in Chile könnte mir viele Vorteile bringen. Um aber daran teilzunehmen, benötige ich eine offizielle Einladung, damit die Uni mich für die Zeit – obwohl es ja nur ein paar Tage sind – freistellt und ich eine polizeiliche Ausreiseerlaubnis bekomme.“
Ino wusste gut Bescheid über die lästigen Kontrollen der chinesischen Bürokratie. Doch zuerst fragte er: „Und wer trägt die Kosten für die Reise um die halbe Welt?“
„Du..ich..wir“, stammelte Arr und fügte bittend hinzu: „Wäre es möglich, dass du das übernimmst?“
Ino stöhnte: „Wenn es denn diese Reise im Dutzend billiger gäbe! Oder wir sollten besser unseren gemeinsamen Wohnsitz noch Südamerika verlegen, denn He will dorthin, um am Inka-Lauf teilzunehmen, Pilar will ihn begleiten und nun möchtest du auch unbedingt zum Paranal-Observatorium. Ist das Zufall?“
Arr antwortete nicht darauf. Dann sagte er lapidar: „Den Termin der Konferenz habe ich nicht bestimmt. Ich sehe darin eine sehr gute Gelegenheit, über unser Thema aktuelle Standpunkte von wichtigen Leuten zu erfahren. Es ist doch unser Thema nicht wahr? Oder hattest du vor, selbst daran teilzunehmen?“
Nun war Ino etwas in die Enge getrieben: „Nein, ich hatte nicht vor, daran teilzunehmen. Ich bin allerdings überrascht, dass es ein so starkes offizielles Interesse insbesondere von den Chinesen an dem Thema gibt. Denn zurzeit sind alle Augen auf den Mars gerichtet oder auf Exoplaneten, die sich in schier unerreichbarer Ferne als ungemein erdähnlich erweisen sollen. - Aber du hast Recht“, fuhr Ino nach einer Pause fort, die Arr nicht wagte zu unterbrechen, „wenn ich es mir recht überlege, ist es von Vorteil, wenn wir bei einer derartigen Tagung dabei sind. Ich fürchte nur, dass die chinesischen Teilnehmer sich nicht wirklich in die Karten schauen lassen. Aber versuche es in Gottes Namen. O.k., ich werde mich um deine Teilnahmeerlaubnis kümmern. Wenn es so weit ist, wirst du es erfahren“.
Geschafft, dachte Arr. Er war glücklich.
Dem Mars so nah
Fünf 24-Stunden-Tage des Rennens hatten die Wettkämpfer schon hinter sich. Die Läufer machten sich gegenseitig Mut. Wenn erst einmal die Wüste hinter ihnen lag, dann würde die Naturschönheit der Anden sie beflügeln und dafür entschädigen, dass sie das marsartige Gelände der Atakama allen Widrigkeiten zum Trotz mit eigenen Füßen durchquert hatten.
Der Vergleich der bräunlichen unbewachsenen südchilenischen Wüstenlandschaft mit dem Mars lag nahe, denn die geplante Landung der Amerikaner auf dem Nachbarplaneten war in aller Bewusstsein. Es gab kaum einen Tag in dieser Zeit, an dem nicht über den Roten Planeten berichtet wurde. Die Medien zeigten die rotbraunen Marswüsten in allen Variationen. Die sahen so aus wie die Umgebung hier: Kein Grün, nur dieses endlos braungraue Trockenheitsbild, weite leere Täler, gezackter ferner Gebirgshorizont. Die Landung der ersten Menschen auf dem Nachbarplaneten sollte nicht mehr lange auf sich warten lassen. Das kündigte das Raumfahrtunternehmen mit viel Tamtam an. Allerdings hieß es das schon seit Jahren.
He ließ die farbenleere Wüstenumgebung auf sich wirken. Es fühlte sich an, als laufe er bereits auf dem fernen Planeten. Er durchquerte ein weites Hochplateau. Befände es sich auf dem Mars, konnte es wegen seiner Ebenmäßigkeit als Siedlungsstandort für die ersten menschlichen Besucher geeignet sein. He machte sich Gedanken über den Sinn all der weltweiten Anstrengungen, um ausdrücklich den Mars zur besiedeln.
Leben auf einen lebensfeindlichen Planeten zu transplantieren, wie sollte das gehen? Hier, in der Atakama Wüste fristeten Menschen ihr Dasein in der Einöde und nahmen extreme Lebensbedingungen in Kauf, weil sie mit der Förderung von Bodenschätzen ihren Unterhalt verdienten. Sie waren hergezogen, weil sie hier Brot und Lohn erhielten. Ließ sich das mit einer Siedlung auf dem Mars vergleichen? Würden sich in Zukunft Menschen auch auf den Mars versetzen lassen, angelockt durch erhöhte Verdienstmöglichkeiten. Würden sie damit ihre Lieben in der irdischen Heimat versorgen oder versuchen, ihnen dort in der Fremde eine von der lebensfeindlichen Welt abgerungene Inselexistenz zu bieten? Menschen würden geopfert und würden sich opfern, um wieder einmal mehr den wirtschaftlichen Interessen anderer gerecht zu werden. Konnte das die Zukunft sein?
Der Staffelwechselpunkt befand sich abseits der Ortseinfahrt. He ließ seine Gedanken frei fliegen, während er maschinengleich einen Fuß vor den anderen setzte. Er versuchte sich vorzustellen, wie sich die Chaskis vor über 500 Jahren durch die Wüste hatten kämpfen müssen. Bestimmt nahmen sie damals die bedrohliche Unnatur der Umgebung bei ihren Botenläufen schicksalsergeben einfach so hin. In königlichem Auftrag und bedingungslosem Gehorsam überbrachten sie Mitteilungen und gaben sie weiter. Wie hatten sie es nur in der damaligen Zeit geschafft, ein vitales Netz von Staffelläufern in dieser menschenfeindlichen Region aufzubauen und zu erhalten?
Nachdem He eine leichte Erhebung überwunden hatte, öffnete sich ihm ein weites Tal. Da war kein Baum, kein Strauch, soweit er sehen konnte. Zahlreiche Fahrzeugspuren führten kreuz und quer durch die flache öde Hochebene. In der Ferne waren Gebirge aufgetürmt, die der Leben verschlingenden Weite ein Ende zu setzen schienen, jedoch unerreichbar entrückt.Sein Überwachungsballon folgte über ihm im Rücken. Mit dem kahlen Panaroma vor ihm überkam He ein Gefühl der Verlorenheit und des Ausgeliefertseins. Das war angesichts der Todeslandschaft nicht verwunderlich. In der Ferne führten die belebten landesweiten Straßen- und Schienenverbindungen in Nord-Süd-Richtung an der chilenischen Küste des südamerikanischen Kontinents entlang.
Aber hierhin, in diese Region verirrten sich nur selten Fahrer. Hier tauchte höchstens mal einer auf, der Bodenforschung betrieb oder eine Querfeldeintour in Richtung der nordöstlich gelegenen Kupferminen machte.
Der Boden unter seinen Schuhsohlen war sandig, aber fest. Abgestorbener Bewuchs hielt ihn hier und da zusammen. Mit einem voll betankten Geländefahrzeug die Einöde bis zum Horizont zu überwinden, war keine große Herausforderung. Aber in dieser erbarmungslosen Trockenheit nur auf die eigene Kraft der Beine angewiesen zu sein, war eine harte Prüfung des Leistungswillens und der Selbsteinschätzung. Wer hier in die steintrockene Ebene hineinlief, der sollte besser genau wissen, wie er wieder herauskam. He vermochte jetzt nachzuvollziehen, wie sich ein Botenläufer des Inkakönigs gefühlt haben musste.
Er spürte, wie der Chaski stolz den Blick in die Weite gerichtet, voller Mut die lebensbedrohende Herausforderung der Wüstenstrecke annahm und entschlossen mit einem Seufzer ins bevorstehende Überlebensrisiko startete. Unterschied sich davon seine Situation hier und jetzt?, fragte er sich. War er, He, persönlich denn gegen tödliche Unbill dieses Wüstenabschnitts gefeit? Was wäre, wenn der unbemannte Ballon in einem aufkommenden Unwetter plötzlich ausfiel und das Satellitentelefon nicht mehr funktionierte? Darauf gab er sich selbst die Antwort: Sobald seine Funkverbindung zur Sportzentrale unterbrochen war, wurde automatisch ein Alarm ausgelöst. Sogleich begännen die Betreuer mit Helikoptern und Fahrzeugen nach ihm zu suchen. Aber wenn ein Sandsturm sie daran hinderte? - Stopp!
He unterbrach sich und versuchte, die Bedrohungsszenarien sofort wieder aus seinem Bewusstsein zu tilgen. Jetzt, wo er seine ausdauernde Kraft als Langstreckenläufer unter Beweis stellte, waren das die falschen Gedanken.
Passender war, Gelassenheit anzunehmen, Vertrauen in die eigene Kraft zu fassen und ein angemessenes Maß an Schicksalsergebenheit zu akzeptieren. Man durfte nicht über das Jetzt der Bedrohung sinnieren, sie dadurch akut und unmittelbar erscheinen lassen. Das wirkte sich leistungshemmend aus.
Gleichmäßig federnd vollzog er seine ausgreifenden Laufsprünge. Am besten war, an gar nichts zu denken, den Kopf freizuhalten, damit der Körper, durch Reflexionen ungestört, die Wahrnehmung vom Auge direkt ans Nervensystem zur optimalen Bewegungskoordination weiterleitete. Sodass er mit dem Laufgrund eins wurde und zu einem geschlossenen System von Umwelt und Läufer verschmolz. Ihm war, als würde er gelaufen. In gleichmäßigen Laufsschritten wogte er dahin, halb in Trance. Ein Zustand, in dem das Bewusstsein wie mithilfe von Rauschmitteln abhob und über dem schmerzfreien Körper schwerelos dahinschwebte.
He war weit davon entfernt, Doping-Drogen zu sich zu nehmen. Das war nicht nur verboten und verpönt. Pilars Gehirnüberwachung unterband das automatisch. Die gesundheitlichen Folgen waren nicht absehbar. Im gesamten Team herrschte verlässliches Einvernehmen, alle Dopingmittel zu verbannen. Niemand sah einen Sinn darin, die Wettkampfleitung, die Mitstreiter der anderen Teams, die eigenen Staffelpartner, ja schließlich auch den eigenen Körper mit solchen Mitteln zu betrügen.
Jeder Sportler, der sich auf strapaziöse Langstreckenläufe einließ, musste gelernt haben, auf Schmerzsignale taub zu reagieren. Die eigenen Empfindungen ausblendend, schätzte ein Athlet bewusst ab, welche Belastung er seinen Knochen, den Sehnen, der Haut und der Blutversorgung zumuten konnte.
Eine neue, unauffällig im Körper eingesetzte elektronische Messtechnik half ihm, über Dosierung und Verteilung seiner Kräfte zu entscheiden. Gewöhnlich war für einen Leistungssportler die emotionale Steuerung das Problem, wenn er danach strebte, seine Grenzen zu überschreiten. Mit den neuen Mitteln konnte er auf elektronischem Wege die Magdala, das Gefühlszentrum im Gehirn, dämpfend oder anregend beeinflussen.
Bei extremem Körpereinsatz hebelte er mit dieser Technik die Selbstwahrnehmung weitgehend aus und stellte sein vegetatives Nervensystem unter die Kontrolle des logisch kalkulierenden Bewusstseins. Jetzt orientierte er sich an objektiven Messwerten, ohne Schmerzen berücksichtigen zu müssen.
Wenn beispielsweise in Gebirgshöhen der Mangel an Sauerstoff Muskelschwäche verursachte, konnte ein Bergsteiger mithilfe des EBC (Electronic Brain Control) verhindern, dass Ängste und Resignation seine Kräfte schwächten und die Leistung beschleunigt absacken ließen. Das EBC schloss Panikreaktionen aus, indem es im Gehirn Signale der Wohlstimmung auslöste. So erlaubte es ihm, leichtfüßig über kritische Erschwernisse hinwegzukommen. Das galt auch für schmerzhafte Fehltritte beim Laufen, Springen oder Klettern, die zu Sehnenzerrung und Verstauchungen führten. Normalerweise vermied das steuernde Gehirn durch Pein, den Fuß wie gewohnt zu belasten.
Jetzt war aber für den Ausgleich des Missgeschicks nicht mehr das permanente Schmerzsignal Ausschlag gebend, sondern die gemessene Gewichtsverlagerung, die Zunahme der Gewebeflüssigkeit und der Temperaturanstieg in den betroffenen Gliedern. Das Messsystem ermittelte, was dem Körperteil trotz Verletzung noch zuzumuten war. Es unterdrückte Schmerzvermeidungsreaktionen nicht an den akut überstrapazierten Gliedern und Organen. Sondern es blockierte sie im Gehirn, wo die Informationen des vegetativen Nervensystems zusammenflossen.
Die Steuerung durch Messwerte verstärkte oder dämpfte die unbewussten Spontanreaktionen. Sie verhinderte, dass die extreme sportliche Leistung nicht vorschnell durch Überreaktion kollabierte. Schnell erhoben Kritiker den Vorwurf, dass es sich bei derartiger Gehirnbeeinflussung gleichermaßen um Doping, zwar nicht auf Basis von Chemie, aber um eine physikalische Variante handelte. Dagegen wandten ihre Verfechter ein, dass durch elektronische Anregungen des Gehirns der Körper des Athleten ausschließlich die von ihm selbst erzeugten Hormone und Substanzen verarbeitete und keinerlei fremde Produkte aufnahm. Die Stimulation, so hieß es, war von der gleichen harmlosen Art der Einflussnahme, wie anfeuernde Rufe, Warnungen und Stimmungsheber eines begleitenden Trainers. Derartige Zurufe erhöhten im Sportler ebenfalls den Hormonspiegel zur Minderung der Schmerzempfindung und Stärkung des Kampfgeistes, erklärten sie.
Extremsportfans
Der Inka-Pfad ließ sich im Abschnitt der Atakamawüste überraschend gut rekonstruieren. Die konkurrierenden Staffelmannschaften folgten allerdings unterschiedlichen Streckenaufteilungen. Darum konnte He heute keinen der Wettläufer in Sichtweite ausmachen. Der historische Laufweg führte ihn quer über einen Kamm der ausgetrockneten Mittelgebirgslandschaft hinunter zu einer in der Ferne auftauchenden Siedlung.
Die konnte schon zu Calama gehören, dachte He, einer von der naheliegenden Kupfermine geprägten Arbeiterstadt. Dort rackerten sich die Menschen ab, um sich das Wüsten-Dasein halbwegs erträglich zu machen. Ihr Leben war von den Fördermaschinen der Kupfergewinnung durchwühlt. Vor Jahrzehnten hatten obendrein schwere Erdstöße ihre Siedlungen erschüttert und zum großen Teil zerstört. Einige Bewohner hatten damals den Verlust von Angehörigen zu beklagen. Hier bedrohte nicht nur die gigantische Kupferförderung die Gesundheit der Bevölkerung. Die Menschen lebten auch in ständiger Angst vor der Wiederkehr der katastrophalen Erdbeben.
He wechselte entspannt dem leichten Gefälle der abschüssigen Wüstenebene entsprechend in eine Art Trab über. Fast ohne Anstrengung ließ er sich, der Schwerkraft folgend, immer weiter in den nächsten Schritt fallen. Nun schaute er angestrengt geradeaus und glaubte das Ziel der heutigen Etappe schon erkennen zu können. Da bemerkte er, dass dort eine wachsende Staubwolke ihren Ursprung nahm, die sich langsam auf ihn zu wälzte. Sie konnte von einem Fahrzeug verursacht sein. Fuhren die Wettkampfbetreuer ihm etwa entgegen, weil etwas passiert war? Was gab es denn vor seiner Ankunft mitzuteilen, was nicht die wenigen Minuten bis zur Staffelübergabe hatte warten können? Sein Knopflautsprecher im Ohr hatte keinerlei Ankündigung oder Erklärung dafür gegeben. Der Begleitballon war ein wenig ins Hintertreffen geraten. Er war für He im Moment nicht sichtbar. Unbeirrt lief er weiter. Die Staubwolke näherte sich immer mehr, mal schien sie sich zu erweitern, dann schrumpfte sie wieder. Er hatte den Wind im Rücken, sodass der aufgewirbelte Sand zu seinem Glück hinter dem Verursacher zurückblieb. Langsam bekam die Szene für He klare Konturen. Das war kein Fahrzeug, das den Staub aufwirbelte, sondern ein Pulk von Fahrradfahrern, die auf ihrem Mountainbikes ein Wettrennen veranstalteten, um ihm, dem Inka-Staffel-Läufer, entgegen zu fahren. Es waren Halbwüchsige von der Arbeitersiedlung, die die Ankunft des fremden Langstreckenläufers mit eigener Leistung zu würdigen beabsichtigten. Dass sie dem Sportler den Lauf auf den letzten eineinhalb Kilometern vor dem Ziel durch Staubwirbel sichtlich erschwerten, war ihnen vor lauter Wettkampfbegeisterung nicht bewusst.
Nun war He gemeinsam mit fünf Jugendlichen in einen ockerfarbenen Nebel gehüllt, der weiter aufquoll, als sie, bei ihm angekommen, mit den Fahrrädern in knappen Bögen um ihn herumfuhren und ihn dann beidseitig bis zum Etappenziel eskortierten. Im ersten Moment wirkte diese Teenager-Show auf He bedrohlich. Fast wäre er stehen geblieben. Aber weil er seinen Atemschutz trug, der für die Wüste und insbesondere in der Nähe des Kupfertagebaus vorgeschrieben war, konnte er weiterlaufen. He schaute sich nach den Gesichtern seiner ungebetenen Begleiter um. Die hatten sich Mundtücher umgebunden, als wollten sie damit die Wettläufer nachahmen. Ihre Mimik blieb ausdruckslos, wie Jungen die etwas erledigen, was sie für cool oder anerkennenswert halten. Sie sagten auch nichts. Darum war He sich nicht ganz sicher, was er von dieser Art der Begrüßung halten sollte. Vernehmlich hustend versuchte er, sich den Staub mit wedelnder Hand vom Gesicht fernzuhalten. Die Jungen, die trotz der geforderten Beinarbeit sich beim Radeln ihm immer wieder zuwandten, verstanden schließlich. Sie hielten sich weiter abseits, um ihm nicht zu viel Sand schlucken zu lassen. Erst als sie gemeinsam mit He den offiziellen Staffelwechselpunkt erreichten und ihn quasi an die dort Wartenden übergaben, erhob einer von ihnen die Stimme und spielte den Wettkampfansager. Er imitierte mit lauter Stimme eine offizielle Sportansage in die Runde. Da lachten sie und zeigten sich stolz, so etwas wie die Ankunft eines Gladiators inszeniert zu haben. Sie warfen He anerkennende Blicke zu. Einer von den Jungen stach He ins Auge, der, wie er selbst, schwarzes Haar hatte und die Gesichtszüge eines Inka-Abkömmlings trug. Er war von kleinem Wuchs - vor allem, wenn man ihn mit Hes Statur verglich - aber von schöner athletischer Gestalt. He verstand die Sprache nicht, in der durch Stimmbruch pubertär eingefärbt der Junge sich munter mit seinen Kumpanen unterhielt. Das ließ ihn unausgegoren, aber sympathisch und führungsbedürftig erscheinen. He hatte den Eindruck, dass der Junge seinem Blick auswich, fühlte sich aber von ihm ständig beobachtet.
Um sich wie ein Chaski beim Wechselpunkt anzukündigen, hätte er das spezielle Horn blasen müssen, das die königlichen Meldeläufer damals bei sich trugen. Doch bei diesem modernen Wettkampf hatte man darauf verzichtet, um die Athleten nicht unnötig mit dem Gewicht des Blasinstruments zu belasten. Stattdessen hatten sie Handys mitzuführen, um notfalls Kontakt mit der Wettkampfleitung aufzunehmen oder sich damit verorten zu lassen.
He schaute sich nun am Übergabepunkt nach seinem Anschlussläufer um und fand ihn selbstverständlich startbereit. Es war Dit. Mit offenen Armen empfing der ihn und begrüßte ihn herzlich und stolz, störte sich nicht an dem Staubschweißgemisch, dass er sich von He auf den Körper drücken ließ. Seine eigene Mischung würde das bald übertünchen. He übergab lächelnd die Inka-Nachrichtenschnüre, die die Rolle des Staffelstabs einnahmen, und schickte Dit mit einem „Machs gut“ und einem Klaps auf den Hintern in die Wüste Richtung Norden. Für He folgte erst einmal die Nachuntersuchung, die Pilar durchzuführen hatte. Sie begrüßte ihn herzlich und erledigte ihre Aufgabe in nur wenigen Minuten. Dann machte sie sich zusammen mit der Besatzung des Ärztefahrzeugs gleich wieder auf den Weg zur Untersuchung des nächsten Läufers beim nächsten Staffelwechsel.
Arrs Anreise
Arr war von der große Befürchtung getrieben, dass eine verborgene Macht ihm seinen Bruder vorzeitig für eine Weltraummission entzog. Das konnte er nicht zulassen. Das musste er verhindern. Darum plante Arr, seinen Bruder während der Wettkampfzeit heimlich zu treffen. Er begab sich offiziell zur Sternwarte auf dem Paranal in Chile, um von dort aus zur geeigneten Zeit seinen Zwilling aufzusuchen. Er beabsichtigte von der Sternwarte aus sich unbemerkt zu einem der Läuferstützpunkte zu begeben, wo He sich entweder gerade auf eine neue Staffel vorbereitete oder sich von einem absolvierten Teillauf erholte.
Arr studierte am Institut für Astronomie und Raumfahrt in Peking. Dort ließ er sich zum Astronauten ausbilden wie He in Siegen beziehungsweise in Frankfurt. Er erwirkte, dass Ino persönlich ihm eine Einladung des Paranal-Observatoriums in der Atakama-Wüste zu einem Kongress verschaffte, der gerade passend in die Zeit des Inka-Laufs fiel.
Arr machte sich von Peking aus auf den Weg. Dazu musste er sich als Universitätsangehöriger polizeilich abmelden. Das war bei Auslandsreisen in China Vorschrift. Obwohl er schon seinen ersten Universitätsabschluss erreicht hatte, war er auch als graduierter Student immer noch von Genehmigungen der Universitätsadministration abhängig. Für seine Reise musste er einen triftigen Grund vorweisen. Eine Einladung der Sternwarte reichte dafür wohl aus.
Arr bestieg den Transrapid nach Schanghai, um von dort über Mexiko City nach Chile zu fliegen. Im Zug befiel ihn eine gewisse Melancholie, weil er seinen Bruder He nicht im Ohr und vor Augen hatte. Er ließ sich ersatzweise Musik in den Kopf spielen, schloss die Augen und versuchte sich auszumalen, was wäre, wenn He ihn schon inzwischen verlassen hätte und bereits unterwegs in den Weltraum wäre. Nicht auszudenken. Zur Eigenbesänftigung rief er sich in Erinnerung, wie sie schon als kleine Jungen die Doppelpräsenz gemeistert hatten, immer aufs Engste verbunden waren, aber ohne sich je zu berühren.
Arrs Flug über den Pazifik startete in Schanghai. Von Peking aus den Transrapid zu nehmen, bot den Vorteil, dass er nicht einmal umsteigen musste. Arr hatte sich gewundert, dass zwischen der Ankunft des Magnetzugs und der Abflugzeit kaum mehr als 20 Minuten lagen. Wie sollte da eine Flugabfertigung erfolgen? Die Verwunderung hatte noch zugenommen, als er bereits beim Betreten des Zugs seine Identität nachweisen musste, als verließe er das Land schon in Peking. Fraglos ließ er es über sich ergehen. Im Zug konnte er aus der Lautsprecheransage entnehmen, dass vom letzten Haltepunkt des Zugs bis zur Endstation niemand mehr den Wagen verlassen konnte ... bis Mexiko City!
Wie konnte das sein? Tatsächlich hatte er in Peking für seine Reise nur ein einziges Ticket erhalten. Das galt bis Südamerika. Der Transrapid erschien darauf nur als eine Zeile der Kombinationsreise.
Aber jetzt am Ende der Magnetschienenstrecke konnte Arr die Lösung des Rätsels am eigenen Leib erleben: Der Zug fuhr schnurstracks in den Flughafen hinein. Alle Insassen des Waggons mussten vorher ihren Platz einnehmen und sich anschnallen. Dann teilte sich der Zug abschnittsweise auf. Der Waggon, in dem Arr saß, glitt in ein riesiges Flugzeug hinein, wobei er sein Dach und seine Seitenwände hinter sich ließ. Wie auf einer Palette wurden die Passagiere auf einem Plateau in kurzer Zeit verschoben. Dabei konnte Arr sehen, dass rechts und links von ihm die gleichen Manöver mit anderen Transrapid-Segmenten abliefen. Auf diese Weise die Wagen des Zugs aufnehmend, hatte sich ein großer Raum mit 10 Doppelsitzreihen gebildet. Arr fühlte sich nun wie in einem Großkino. Und tatsächlich senkte sich, kurz, nachdem das Verschiebemanöver abgeschlossen war, am vorderen Ende der Halle eine große Leinwand herab, die fast die gesamte Frontseite des Saals ausfüllte. Nach einem kurzen Flimmern erschienen dort zur Begrüßung der Reisegäste ein paar freundliche Gesichter im Großformat. Die gaben Erklärungen zu den neuen Einrichtungen des Terminals und dem riesigen Vehikel, in dem die Passagiere angekommen waren. Erst jetzt wurde ihnen gezeigt und erläutert, in was für ein seltsames Flugzeug sie geraten waren. Rund wie eine überdimensionale Flunder mit seltsamen Auslegern, die offenbar als Flügel dienten, war dieser Großraumtransporter gestaltet. Und es dauerte nicht lange, dann setzte sich der gesamte Kinosaal in Bewegung, aber nicht etwa vorwärts sondern senkrecht in die Höhe. Die riesige Leinwand bot nun eindrucksvoll den Blick der Piloten aus ihren Fenstern in Direktübertragung. Sie eröffnete den Passagieren eine wunderbare Sicht auf das gesamte Flughafengelände, dem sie wie in einem gläsernen Riesenaufzug langsam enthoben wurden.
Schon bald konnten sich die Reisenden von ihren Gurten befreien. Sie liefen in der weiten Räumlichkeit herum und versorgten sich wie auf einem Kreuzfahrtschiff mit Getränken und Essbarem. Der Boden unter ihren Füssen schien kaum merklich zu schwanken. Nachdem ein Fluggast sein Tablett am Tresen mit den gewünschten Speisen beladen hatte, konnte er sich an echten Fensterplätzen oder, wenn er wollte, in Sitzgruppen im Innenraum niederlassen. Die standen jedem zusätzlich zu seinen durchnummerierten gebuchten Sesseln zur Verfügung. Arr ergatterte einen angenehmen Platz an einem der Fenster.
Bald bekam er Gesellschaft von einem attraktiven jungen Mann, der sich mit Geraldo aus Mexiko City vorstellte. Hätte Arr gewusst, mit wem er es zu tun hatte, hätte er vielleicht nicht so abweisend reagiert. Mühselig ließ er sich auf ein Gespräch übers Essen, dann über das neuartige Flugzeug ein, bis sich schließlich im Raum die Atmosphäre wandelte, weil über die halbrunde Leinwand ein Spielfilm anzulaufen begann. Es war die Premiere eines mexikanischen Films, in dem, wie sich herausstellte, der bei Arr sitzende Geraldo die Hauptrolle spielte. Mit einer breiten weiß leuchtenden Doppelzahnreihe strahlte er Arr an und forderte ihn auf, Kopfhörer aufzusetzen und den Film in Chinesisch anzuhören. Von den ersten Bildern des Films zu urteilen, wäre dieser Film nicht Arrs erste Wahl gewesen. Aber nun stülpte er sich gehorsam die Kopfhörer über. Dabei stellte er fest, dass seine Ohren immer noch mit dem Gerät zur Dauerfunkverbindung zu Pilar und seinen Brüdern besetzt waren. Die waren jetzt aber unnütz, weil er keinen Kontakt zu He herstellen konnte. Umso stärker wurde ihm wieder der Zweck seiner Hals über Kopf angetretenen Reise bewusst.
Geraldo hatte schweres ebenholzfarbenes halblanges Haar, das er mit Mittelscheitel trug. Es schien schwärzer zu sein als Arrs. Nachdem im Film die ersten Dialogsätze gesprochen waren, wandte sich Geraldo ihm erwartungsvoll zu: „Es geht darin um eine große Freundschaft“, versuchte der Mexikaner ihm zu erklären und hielt ihm eine Videobrille hin, „hier, nimm die Virtual-Reality-Gläser, damit siehst du die Bilder besser als auf der Leinwand.“ Das Gerät war ein klobiger Bügel, der die gesamte Augenpartie überdeckte. Arr blieb nichts anderes übrig, als dem Ansinnen zu folgen. Er saß da wie ein Sternenreisender aus Science-Fiction-Filmen des letzten Jahrhunderts und schaute sich aus Höflichkeit den schnulzigen Streifen aus Mexiko in 3D an.
Nach einigen Minuten zuckte Arr, denn er hatte etwas auf seinen Lippen gespürt. Wie hingerissen hatte Geraldo sie mit den Fingern berührt. Arr riss den Gesichtsaufsatz herunter, schaute sich um und sah zwei junge Männer mit einer kleinen Handkamera vor sich stehen. Empört drehte er sich zu Geraldo, der sich neben ihn gesetzt hatte. Noch bevor er aber den Mund aufmachen konnte, hauchte Geraldo: „Du hast so schöne Lippen“, und strahlte ihn mit weißen Zähnen an.
„Ich wollte dich nicht erschrecken“, sagte er sanft. „Das ist mein Team“, stellte er die zwei Hübschen vor, die Kamera und Geräte zur Tonaufnahme und Beleuchtung auf Arr gerichtet hatten. Sie lächelten ihn an. Arr setzte sich auf, hielt seine Hand vor die kleine Kamera und sagte empört: „Aufhören, ich will das nicht“.
„Du bist doch einer der Langstreckenläufer vom Schwulensport, nicht wahr?“ Arr erschrak für einen Moment, unterdrückte aber seine Reaktion. „Du bist ArrHe Fengenberg vom deutschen Team, stimmt doch, oder?“, insistierte der Mexikaner. Geraldo schien stolz zu sein, ihn so herausfordern zu können, und zückte sein Handgerät, auf dem sämtliche 60 Läufer der drei Inka-Lauf-Mannschaften mit ihren offiziellen Mannschaftsbildern abgebildet waren. „Unser Foto-Detektor sagt eindeutig, das bist du“, sagte er triumphierend und hielt ihm sein Gerät vor die Nase. Die Bildschirmanzeige wies wie bei einem Fingerabdruckvergleich die Übereinstimmung verschiedener Merkmale zwei ähnlicher Bilder aus. „Er sagt: Übereinstimmung 100 Prozent“, Geraldo hielt ihm das Resultat vor die Augen. Arr schob Geraldos Hand beiseite. In einer solchen brenzligen Situation würde He ihm ins Ohr flüstern: Keine Reaktion zeigen, schoss es Arr durch den Kopf. Mist, dass er keine Verbindung zu ihm hatte.
„Ich bin ein großer Fan des Schwulensports“, Geraldo versuchte hartnäckig Arrs Sympathie zu gewinnen. „Seit Jahrzehnten sponsert mein Vater eine schwule Fußballmannschaft in Argentinien. In Mexiko gibt es leider noch keine Namhafte. Er sagt, erst die Schwulen geben den Wettkampfveranstaltungen ihren besonderen Reiz. Er hat auch die Naked Games 2029 in Montreal unterstützt, wo alle Sportler wie im alten Griechenland nur nackt antreten durften. Er bedauert sehr, dass die Nackten Spiele nicht mehr wiederholt wurden.“
„Wer ist denn dein Vater?“ Arr war froh, das Thema wechseln zu können. „Juliano di Compastano, der große mexikanische Medienmogul“, war Geraldos stolze Antwort.
Arr musste sich eingestehen, dass er diesen mächtigen Mann nicht kannte. „Aha“, sagte er frech, „und der finanziert dir deinen Film. Lass mich das Werk bitte erst einmal anschauen, dann können wir ja weiter reden.“ Arr versuchte einfach Zeit zu gewinnen. Den ganzen Flug über wollte er sich nicht mit diesem Mann unterhalten.
„Ist doch nicht nötig“, versuchte Geraldo das Gespräch zu retten, „Ich gebe dir gerne eine Kopie davon. Es ist ein Schwulenfilm, der vor fünfzig Jahren spielt, eine Coming-out-Story. Heute haben die Menschen ja keine Vorstellung davon, wie hart das Schwulsein damals war.“
„Ja, sicher“, versuchte Arr das Gespräch durch Zustimmung zu verkürzen, „lass mich doch einfach jetzt auf der großen Leinwand deinen Film anschauen, O.K.?“
Geraldo gab endlich auf und verzog sich mit seinem Team, wie er es nannte, einige Sitzreihen weiter abseits.
Terrys Hilfe
Das Hotel der Sternwarte war überfüllt, natürlich wegen des Sportereignisses. Arr hatte ein Zimmer reserviert. Er musste aber akzeptieren, dass noch jemand seinem Zimmer zugeteilt wurde. Es war Terry, ein Amerikaner, rothaarig 1 m 78, vital. Arr schlief neben dem Fremden auf dem Hoteldoppelbett im Schlafsack. Offiziell hatte Arr sich für einen Astronomie-Kongress angemeldet, dessen Teilnahme er an der Uni Peking nachweisen musste. Das Thema war Struktur und Ausdehnung der Oorthschen Wolke, also ein wichtiges Thema, das sogar für seine persönliche Ausbildung von großer Bedeutung war, man konnte sagen, es ging um sein Lebensreiseziel. Doch Arrs eigentlicher Grund zum Sternwartenkongress nach Chile zu kommen, war, seinen Klonbruder He während dessen Extremlauf auf dem Inkapfad zu treffen. Darum schwänzte er einen Teil der Seminarvorträge.
Als sein Zimmergenosse Terry erklärte, er werde in die Wüste zum nächsten Laufposten der Inka Staffel fahren, da fragte Arr ihn ganz aufgeregt: „Oh, ja? Könntest du mich eventuell dorthin mitnehmen? Die Vorträge sind eh zu langweilig.“ Die Kongressveranstaltung zu schwänzen, war ziemlich leichtfertig.
Unter den internationalen Seminarteilnehmern waren auch Vertreter des chinesischen Militärs. Sie interessierten sich für die Oortsche Wolke wegen ihrer strategischen Bedeutung im Sonnensystem. Es wurde unter anderem ein Vortrag gehalten mit dem Titel: „Oortsche Wolke - Begrenzung unseres Sonnensystems oder Übergang zu Nachbarsternen“. Sicherlich würde man Arr in Peking fragen, ob er die ein oder andere wichtige Persönlichkeit begrüßt hatte. Aber statt um Astronomie-Celebrity herumzuschwänzeln, war ihm jetzt sein Bruder wichtiger. Vielleicht konnte er He mit Terrys Hilfe schon morgen treffen.
Terry war ein Schwulen-Reporter aus Kalifornien. Ein quirliger Mann Anfang dreißig mit rötlichem gelocktem Haar, sommersprossiger Haut, farblosen Wimpern, blauen Augen, stechendem Blick und blassen Lippen.
Mit seinem Geländewagen durchfuhr er in dieser Saison Südamerika. Er schrieb Reise- und Erfahrungsberichte, die er an Zeitschriften verkaufte, vorzugsweise an Schwulen-Magazine. Ihm schien der Inka-Lauf eine günstige Gelegenheit für eine ausgiebige Reportage.
Bei ihrer Unterhaltung im Wagen kam Terry auf sein Herkunftsland Kalifornien zu sprechen. Der Ostküstenstaat hatte sich vor knapp zwanzig Jahren in den reichen Norden und den spanischen Süden gespalten. Jerry selbst hatte sich dem Süden angeschlossen, wo hauptsächlich Spanisch gesprochen und enge Beziehungen zu Mexiko gepflegt wurden. Er erzählte von der schwulen Kommune, der er angehörte. Sie war am Fuße des Otay Mountains gelegen. Es handelte sich um ein Anwesen in der Wüste, Dort nahmen sie häufig junge Mexikaner in ihre Gemeinschaft auf.
Um zum Start des Inka-Laufs zu gelangen, landeten Internationale Journalisten in Chamonate auf einem kleinen chilenischen Flugplatz am Rande der Atakama-Wüste. Von dort waren es nur noch ein paar Kilometer nach Copiapo, wo die Startlinie des Extremsportwettkampfes gezogen war. Für die kleine Stadt, die nicht einmal 20.000 Einwohner zählte, war die Sportveranstaltung ein ungewohntes Großereignis, wenn auch nur von kurzer Dauer. Der Zeitraum des Laufs war auf 21 Tage festgelegt. Davon durfte Copiapo allerdings nur den Ersten miterleben. Fast das gesamte Veranstaltungscors zog mehr oder weniger gleichzeitig mit den Läufern nach Norden und kehrte nicht wieder zum Start zurück, anders als es bei einem Langstreckenlauf zu erwarten war. Das Ziel lag vielmehr über 5000 km nördlich in Ecuador. Dort sollten auch zum Abschluss die Sieger gefeiert werden. Ein Zwischenhöhepunkt war bei Cusco am Macho Picchu vorgesehen. Zur Wettkampfhalbzeit sollte der bis dahin letzte Läufer jeder wettstreitenden Mannschaft ihr anvertrautes Bündel Knotenstränge am historischen Königssitz des Inka abliefern, in Anlehnung an die Praxis der Chasquis. Vorher hatte das Schnürbündel wie ein Staffelstab über hundert Mal die Hände der Teamläufer gewechselt. So viele Streckenabschnitte gab es vom Start bis hierher. Noch einmal so viele waren in der zweiten Halbzeit bis zum Ziel zu bewältigen. Am Tag nach dem Eintreffen des letzten Staffelträgers war vorgesehen, dass jede Läufermannschaft eine zweite Knotenschnürensendung Richtung Norden losschickte, um sie dann endgültig am Ziel im tausend Kilometer entfernten Quito dem Wettkampfleiter zu übergeben. Am Südrand von Quito gab es ein Stadion. Dort sollten die Läufer zum Schluss einlaufen. Hier war geplant, nach der Gesamtbewertung aller Läufer den Sieger von den angetretenen je 20-köpfigen Staffelteams zu ehren. Preise winkten nicht nur der Siegermannschaft, sondern auch dem nach Einzelbewertung besten Extremläufer.
Youba
Youba lief für die Australier. Wegen seiner wunderbar glatten schwarzen Haut, seines schlanken Körpers, langen dünnen Beine, blitzend weißer Zähne und großer brauner Rehaugen stach er unübersehbar hervor. Er sprach überraschenderweise deutsch. He war darauf gestoßen, als er zufällig eine deutsche Beschriftung auf Youbas Sportgepäck entdeckte. Interessiert erkundigte er sich bei ihm danach. So kamen sie ins Gespräch. Youba war in Stuttgart aufgewachsen, als Teenager mit seinen Eltern nach Australien gezogen. Dort hatte er studiert und lebte nun in Papua-Neuguinea, wo er seit zwei Jahren für ein australisches Unternehmen einen Job bestritt. Von seiner anmutigen ebenholzschwarzhäutigen Gestalt mochten man kaum die Augen abwenden. Er war von äthiopischen Eltern in die Welt gesetzt worden. Sie zogen damals als Mitglieder einer Art Diplomatischem Korps mit ihm als Kleinkind nach Europa. Youba war eine Läufernatur, wie sie im Buche stand. Seine Bewegungen waren von so geschmeidiger Eleganz, dass es ein Vergnügen war, ihm beim Training zuzuschauen. „Er könnte als Model arbeiten“, dachte He. Wie ein aufblitzender Sonnenstrahl wirkte sein Lächeln, wenn seine ebenmäßigen Zähne den krassen Kontrast zu seiner Gesichtsfarbe zeigten. So waren auch seine Augen, die, aus seinem Skulpturkopf leuchtend, wie Schlaglichter die Umgebung zu erhellen schienen.
He war fasziniert von seiner Erscheinung. Youba reagierte erfreut, als He ihn auf den deutschen Gepäckaufdruck ansprach. „Ich bin in Frankfurt aufgewachsen“, erklärte Youba und erzählte seine Geschichte der Umzüge von Kontinent zu Kontinent. Wenn offen schwule Sportler miteinander ins Gespräch kamen, dann tauschten sie nicht nur ihre Bestzeit und Erfolge aus. Automatisch stand die Frage im Raum, wie sie es geschafft hatten, die Öffentlichkeit mit ihrer Homosexualität zu konfrontieren.
„Mein Coming-out war ein Drama wie bei vielen“, sagte Youba mit einem Seufzer, „Ich musste meine Eltern verlassen. Es war nicht leicht für sie, denn ich bin ihr einziges Kind. Eigentlich hatten sie allen Grund, stolz auf mich zu sein. Doch mein Vater fürchtete sich vor meinen Sporterfolgen. Als Diplomat eines Volkes, das für seine Homophobie bekannt ist, beunruhigte ihn, dass sein schwuler Sohn durch Medaillengewinne in Gay Sport Games von nationalem und internationalem Medieninteresse wurde. Er polterte lauthals: Wenn herauskäme, dass sein einziger Sohn homosexuell war, verlöre er sein Ansehen auf dem internationalen Parkett und damit seine Stellung. Meine Mutter zeigte zwar irgendwann Verständnis für mich. Aber sie versuchte Schuldgefühle in mir zu erzeugen und warf mir vor, ich setzte Vaters Existenz aufs Spiel. Da war für mich Schluss. Kurz gesagt, ich war nicht bereit, meine Identität der Karriere meines Vaters zu opfern.“ Und verschmitzt fügt Youba hinzu: „Schließlich war er ja alt genug, um selbst für seinen Ruf zu sorgen.“ Er lachte und fuhr fort: „Ich war damals beim Marathon in Australien nationale Bestzeit gelaufen und schloss mich umso publikumswirksamer der Schwulensportorganisation in Sidney an. Viele Sportler haben mich daraufhin geschnitten. Meine Karriere als Berufssportler konnte ich vergessen. Der Laufsport reicht ohnehin nicht aus, um sich davon zu ernähren, jedenfalls nicht, wenn du nicht zur Weltspitze gehörst. Bis dahin hatte ich in meinem Job als Mitarbeiter eines Architekturbüros keine Karrieresprünge gemacht. Doch dann wurde mir über einen Headhunter von einer australischen Firma eine Stelle in Neuguinea angeboten, die mir einigermaßen akzeptabel schien. Und dort bin ich jetzt.“
He hörte ihm mit großer Aufmerksamkeit zu und fast ehrfurchtsvoll stellte er fest: „Soweit bin ich beruflich noch nicht. Ich bin praktisch noch in der Ausbildung.“
„Für was?“, wollte Youba wissen. He schaute ihn prüfend an: „Für Astronautik. Ich werde Astronaut.“
„Na, damit hast du dir keinen typischen Job für Schwule ausgesucht.“ Stellte Youba lakonisch fest und musterte ihn respektvoll von oben bis unten: „Du willst es also jetzt wissen, nicht wahr? Ein offen schwuler Astronaut, echt gut. Wie alt bist du?“ „27 und du?“ antwortete He.
„Ich bin 29“, sagte Youba und es kam ihm so vor, als könnte sich eine Freundschaft zwischen ihnen anbahnen.