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Hes Entführung

Der Plan war schnell gefasst, He als wichtigen Informationsträger zu kidnappen und als Geisel zu nehmen, um vom chinesischen Staat die Anerkennung Yushiaos als gebürtigen Erben der Qing-Dynastie zu erzwingen.
Dazu mussten die Fanatiker aber erst einmal He aus dem Sportbetrieb herausfischen und einfangen. Wenn sie damit eine Störung oder gar den Abbruch des internationalen Schulensport-Wettkampfs erreichten, dann glaubten sie sicher, auf den weitverbreiteten Homosexuellenhass   im Land zählen zu können, der dem Veranstalter ohnehin unterschwellig entgegenschlug.
Sie planten, den Läufer noch vor der Halbzeit in Cusco am Titikakasee gefangen zu nehmen, und zwar ganz geschickt mithilfe der Tarnkappe.
Das hieß, dass Yushiaos kleine Sondereinheit eine erstklassische Gelegenheit hatte, zum Einsatz zu kommen. Jetzt konnten sie demonstrieren, wie zielgenau und undurchschaubar sie mit Hubschrauber, Tarnkappe und Sprungschuhen operieren konnte. Yushiao selbst durfte aber an der Aktion nicht teilnehmen, entschied der Kommandant. Er wollte die Unversehrtheit des Prinzen nicht aufs Spiel setzen. Zähneknirschend schickte Yushiao zwei seiner Kameraden, die mit ihm die neuen Techniken trainiert hatten, los um He zu fangen.
Doch der Einsatz lief schief. Die Kämpfer kehrten mit leeren Händen und beschädigten Tarnanzügen zurück. Der Kommandant brüllte herum. Die Versager erzählten kleinlaut, sie hätten keine Fesseln dabei gehabt. Da wäre er ihnen in den See entwischt. Dort hätten sie weiter versucht, seiner habhaft zu werden, doch er sei ihnen entglitten. Wieder schrie der Kommandant sie an. Doch als dann herauskam, dass sie den falschen Mann zu fangen versucht hatten, da rastete er völlig aus und schlug ihnen ins Gesicht. Zwei Tage später rief er seinen abgeschotteten Qingprinzen herbei und beauftragte ihn, als Gruppenführer der Tarnkappenkämpfer die Aktionen ab jetzt selbst durchzuführen, und zwar zusammen mit den zwei vorher gescheiterten Kameraden. Die würden nicht wagen, noch einen Einsatz gegen die Wand zu fahren. Dessen glaubte der Kommandant sich sicher zu sein, qua seiner Autorität sozusagen. Aber einen Laufsportler wie He zu kidnappen, war auch für drei Angreifer nicht einfach, selbst wenn sie sich alle unsichtbar machten.

Obwohl sie Konkurrenten waren, verbündeten sich die gleichzeitig laufenden Inka-Lauf-Kämpfer miteinander zu Dreierpulks. So versuchten sie sich gegen weitere Angriffe von der Art, die sie ihn am Titikakasee erlebt hatten, zu schützen. Die Kidnapper starteten unter Yushiaos Kommando und rannten mit Sprungschuhen den Läufern unerkannt entgegen.
Jetzt im Gelände der Anden machte He die Nachhut des Dreimannpulks. Nicht einmal 10 m lief er hinter seinem Vordermann her. Sein Beobachtungsballon schwebte direkt über ihm, der mithilfe von Propellern genauen Kurs hielt. Die Unsichtbaren waren mit einem Hubschrauber etwa zwei Kilometer abseits von der geplanten Zugriffsstelle gelandet. Von dort liefen sie auf ihren Sieben-Meilen-Stiefeln unbemerkt an den ersten beiden Wettkämpfern vorbei. Einer von ihnen, es war Yushiao selbst, rannte frontal auf He zu und kickte ihn mit dem Kopf so hart, dass der Sportler das Bewusstsein verlor und zusammensackte. Die beiden anderen Dunkelmänner bremsten ihren Sprunglauf mit knirschendem Geräusch ab und ergriffen zu dritt den angeschlagenen Sportler an Armen und Beinen. In synchronen Laufsprüngen hechelten sie mit ihm zu dem wartenden Hubschrauber. Das dauerte immerhin noch ganze neun Minuten, bis sie ihn unter dem drehenden Rotor durch die offene Helikoptertür ins Innere gezerrt hatten und dann mit lautem Geknatter abhoben. Ohne zu bemerken, was hinter ihrem Rücken passierte, liefen die beiden anderen Extremsportler vor He zwar zunächst noch weiter. Von ihren Beobachtungsballons wurden sie zu spät gewarnt. Sie konnten nur noch schwer atmend zusehen, wie Hes Ballon seinem Schützling bis zum startenden Helikopter folgte, dann aber wegen der Luftwirbel von ihm abließ. Der Hubschrauber der Entführer hob mit gesenkter Nase ab, drehte Richtung Norden und verschwand langsam über der Gebirgslandschaft in der Ferne. Yushiao persönlich hatte sich He vorgenommen. Um den Fehler vom Titikakasee nicht zu wiederholen, identifizierte er He als den richtigen Mann von den drei Wettkämpfern lieber selbst und machte ihn ohne Waffen kampfunfähig. Bei dem Schlag Kopf gegen Kopf ging die Geräteeinheit zur Spiegelsteuerung seiner Tarnkappe zu Bruch, die an den Stirnseiten angebracht war. Bei He hatte sie eine blutende Wunde geschlagen. Doch es sah schlimmer aus, als es war. Im Hubschrauber entledigten sich die Sektenkämpfer schnell ihrer Tarnkappenüberzüge, rissen den Kommunikationsbügel von Hes blutigem Kopf und fesselten den langsam zu sich kommenden hastig mit Kabelbinder an Hand- und Fußgelenken.

Im Hubschrauber war es so laut, dass man sich durch Sprechen kaum verständigen konnte. Sie schnallten He, der sich erfolglos wehrte, wie ein Stück Frachtgut mit Haltegurten am Boden des Transporthubschraubers fest. Yushiao kniete sich auf ihn und begutachtete Hes Kopfwunde. Er forderte durch Zeichen den Sanitätskasten an und versuchte, He einen Kopfverband anzulegen. Aber He ließ das nicht zu und wand seinen Kopf hin und her. Yushiao saß auf ihm und drückte mit beiden Händen seinen Schädel zu Boden, bis He ächzend dem Druck nachgab. Während er auf seinem ehemaligen Heimgenossen kniete und dessen Gesicht mit beiden Händen zu Boden drückte, überkam Yushiao plötzlich ein seltsames Gefühl des Triumphs. Völlig unerwartet legte er sich gänzlich auf ihn. Gesicht auf Gesicht spuckte er ihm Speichel auf den Mund und leckte ihn von den Lippen wieder ab. Als kleiner Junge mit anderen Spucke auszutauschen, war für Yushiao im Kinderheim ein beliebtes Spiel gewesen. Die anderen Jungen ekelten sich davor und wehrten ihn ab. Selbst als er langsam in die Pubertät kam, versuchte Yushiao seine seltsame Art von Intimität, mit dem ein oder anderen Heimgenossen weiter zu pflegen. Doch dann war er ja plötzlich aus dem Heim verschwunden. Wie ein Kippschalter weckte die abstoßende Spucke aus seinen Lippen in He Erinnerungen an seinen ehemaligen Zimmerkameraden im Kinderheim. Elektrisiert riss er die Augen auf und schaute in Yushiaos grinsendes Gesicht.
„Erkennst du mich jetzt?“ Schrie Yushiao gegen das Rotorengetöse an. He bäumte sich gegen den auf ihm Liegenden auf und spie eine volle Ladung Spucke in das über ihn gebeugte Gesicht.
„Hey, Du Schwuchtel“, brüllte Yushiao und rutschte mit seinem Hinterteil auf Hes Körper zu den Leisten. Dann hoppelte er, einen Geschlechtsakt vortäuschend, auf dem Gefesselten herum, bis er die amüsierte Aufmerksamkeit seiner beiden Sektenkameraden auf sich gezogen hatte. Dann befahl er einem von ihnen, sich auf Hes Beine zu setzen, dem anderen sich auf Hes Brust zu hocken. Dann drehte er sich auf dem Gefesselten herum und wandte sich der kurzen Sporthose zu, die der Läufer weit geschnitten trug, und holte das Geschlechtsteil des Gefangenen hervor. Das versteifte sich in der Hand des Peinigers. Dagegen war He machtlos. Mit aller Anstrengung versuchte sich der Athlet gegen seine drei Bedränger aufzubäumen, doch da kam ihm ungewollt der Pilot zur Hilfe, der in diesem Moment die Landung ankündigte und die Helikopternase so stark senkte, dass die drei Entführer Halt suchen mussten, um nicht übereinander zu fallen. Das machte dem üblen Treiben ein Ende. Nun setzte der Pilot die Maschine langsam auf den Landeplatz und schaltete den Motor ab. Sanitäter, die unter den auslaufenden Flügelrotationen herbeiliefen, öffneten die Tür und nahmen den gefesselten Mann entgegen. Sie schnallten ihn auf eine Bahre, verbanden ihm die Augen und rollten ihn in eins der Flachbauten neben dem Hubschrauberhangar. Dort kümmerte sich ein Lagerarzt um den Gefangenen, verabreichte ihm eine Spritze, reinigte seine Kopfwunde und legte ihm einen leichten Kopfverband an. Auf Befehl des Kommandanten wurde sofort eine DNA Analyse vorgenommen. Spezialisten in Lima, die im Dienste der Sekte arbeiteten, wurden beauftragt, mit dem Ergebnis in sämtlichen nutzbaren Erbgutdatenbanken nach gleichen Strukturen zu suchen, um Hes Genomspender ausfindig zu machen. Das war keine leichte Aufgabe. Sie wurde dadurch erschwert, dass die chinesische Administration über die genetischen Daten ihrer Staatsangehörigen die Hand hielt. Aber mit den Mitteln der Bestechung und höchst anspruchsvollen Hackerarbeiten konnten sich die militanten Sektenführer mehr Informationen verschaffen, als der Großmacht lieb war. Der Kommandant setzte alle Hebel in Bewegung, um die Identität von Hes Klonvater ausfindig zu machen.

Das Ende des Terrors

Mit der chinesischen Administration trieb man keine Späße und wer dabei zu weit ging, musste es schwer bereuen, wenn er denn überhaupt noch dazu kam. Die Chinesen hatten schon vor Jahrzehnten vom befreundeten Brasilianisch Staat ein Stück Urwald in der Provinz Acre südwestlich vom Amazonasgebiet gekauft. Sie hatten mit den Brasilianern freien, uneingeschränkten Zugang per Luftverkehr vereinbart. Eine Verkehrsanbindung per Straße war nicht vorgesehen. Die Chinesen richteten sich einen militärischen Stützpunkt an dieser Stelle ein. Der bestand aus einem Flugplatz und einigen angegliederten Behausungen, die vornehmlich Militärangehörige bewohnten.
Unter dem Vorwand, ein Schutzprogramm für den Amazonasdschungel einzurichten, hatten sie sich hier einen Stützpunkt eingerichtet zur Kontrolle der Nachbarstaaten. Von hier aus verschickten sie Drohnen, die entweder nur spionierten oder in selteneren Fällen auch mit Selbstlenkwaffen verheerende Angriffe ausführten. In den dreißiger Jahren hatten sie von hier aus in 2000 km Entfernung weiter nördlich eine Zentrale der Drogenmafia in die Luft gejagt, weil sie ihnen bei der Erschließung des Amazonasurwalds im Wege stand. Die Brasilianer hatten dazu beide Augen zugedrückt. Ihnen waren die chinesischen Megainvestitionen in vereinbarte Großprojekte im Amazonasgebiet zu wichtig.

Diesmal war dem Fernwaffenexperten Kija Bang, der seit einem Jahr seinen Schlaf- und Arbeitsplatz in einer zweigeschossigen Kaserne am Rande des Regenwalds mit eindrucksvollem Blick auf den Dschungel innehatte, befohlen worden, die Zieldaten vom Nahbereich des Sektenstützpunkts Cachaquito in Peru in die vollautomatische Drohnensteuerung und beide mitgeführten Lenkraketen einzuspeisen.
Der Militärschlag gegen die menschenfeindliche Rassistensekte wurde in Beijing vorbereitet. Als flankierende Maßnahme brachten chinesische Presseagenturen Extrakte von 60 Jahre alten Dokumenten an die Öffentlichkeit. Aus denen ging hervor, dass Fujimori zu seiner Zeit als peruanischer Präsident biologische Kampfmittel aus Japan nach Lima hatte bringen lassen, die später nie mehr gefunden wurden.
Nach Auffassung chinesischer Experten, die von Mitarbeitern der Vereinten Nationen inoffiziell bestätigt wurden, konnten die verschollenen Kontingente der von der Menschheit geächteten Kampfmittel nur an diesem abgeschiedenen, autonom verwalteten Stützpunkt gelagert sein. Sie stellten für alle Menschen eine Gefahr dar, die es dringend zu beseitigen galt. Die über Generationen bewahrte Geduld gegenüber der Sekte hatte nun ein Ende. Das Übel musste beseitigt werden, und zwar bald. Mit extrem heißen Phosphorbomben sollte das Gelände abgebrannt werden. Durch einen solchen Beschuss wurden definitiv sämtliche biologischen Substanzen zu wirkungsloser Asche verbrannt. Klar, dass das nicht nur für gefährliche Bakterien und Viren galt, selbst wenn sie in Metall- oder Betonbehältern verpackt waren, sondern für alles was aus lebenden Zellen bestand.
Dann war es so weit. Kija Bang schickte seine todbringendes Fluggerät befehlsgerecht auf Zerstörungsreise. Ordnungsgemäß machte er unmittelbar nach dem Start des unbemannten Fluggeräts seine Vollzugsmeldung nach Beijing. Er war allerdings darüber sauer, dass ihm untersagt war, die Zerstörungsmission per Drohnen-Kamera zu verfolgen. Laut Befehl durften derartige Einsätze keinesfalls dokumentiert werden. Kurz vor dem Bombardement ging überraschenderweise von einer amerikanischen Quelle ein Hinweis bei der peruanischen Nationalgarde ein, dass Terroristen im Lager Cachaquito den Einsatz von Brandbomben planten. Als die peruanische Staatspolizei dort anrückte, stand bereits das ganze Anwesen mit allem, was sich darin bewegt hatte, durch die Brandbomben in superheißen Flammen. Alle, die aus dem Inferno zu fliehen versuchten, wurden kurzerhand als Terrorverdächtige festgenommen. Der Kommandant und Yushiao waren nicht darunter. Es war das Ende des fragwürdigen Fujimori-Erbes und beendete einen Kaisererbfolgeskandal, bevor er ernsthaft begonnen hatte.

Es war noch genügend Zeit vor Hes Abflug nach Deutschland. Arrs Maschine würde eineinhalb Stunden später abheben. Die beiden Zwillingsbrüder genossen noch die letzten Minuten des Zusammenseins, nachdem sie sich nach all den bedrohlichen Ereignissen hier in Quito wieder gefunden hatten. Pilar war bereits am Tag zuvor nach Wien abgereist, wo sie für einen neuen Forschungsauftrag dringend erwartet wurde. Arr musste zurück an die Uni in Peking.
„Du musst mir noch erzählen, wie das mit dem Überfall war“, drängte Arr sein Ebenbild. He lächelte verlegen. Es war so ungewöhnlich, seinem Bruder Erlebtes durch Erzählen zu vermitteln. Alles, aber auch alles konnten sie aus den Archiven hervor holen, um sich zu vergegenwärtigen, was sie in der Vergangenheit seit ihrem zweiten Lebensjahr erlebt hatten. Aber in diesem Fall blieb He nichts anderes übrig, als allein aus eigener Erinnerung zu erzählen, was damals passiert war, nachdem das Inka-Rennen schon zur Halbzeit Gefahr lief zusammenzubrechen. He erzählte:
„Auf der landschaftlich wunderbaren Strecke entlang des Titikakasees waren uns Leute aufgefallen, die plötzlich in weiter Entfernung vor uns auf der Strecke auftauchten. Ich lief in der dritten Gruppe neben den Läufern der Kanadier und Australier. Youba, der Australier, hielt sich neben mir und deutete auf die Männer, die sich in seltsamen Sprüngen fortzubewegen schienen. Im ersten Moment dachte ich, dass sie sich mit Rückstoßantrieb durch die Landschaft schossen. Doch dann bewegten sie sich auf uns zu und ich konnte ihre 7 Meilen Stiefel erkennen, jene Sprungschuhe, durch deren Federwirkung man sich in weit größeren als normalen Schritten aus eigener Kraft erheblich schneller fortbewegen kann. Sie wirbelten vor uns her und störten unseren gleichmäßigen Laufschritt. Dann blieben sie plötzlich stehen, sodass wir Ihnen ausweichen mussten. Sie holten uns wieder ein und begannen das Störmanöver von vorne. Pele lief für die Kanadier. Bedauerlicherweise ließ er sich von den Hüpfläufern am meisten irritieren, so dass er für einen Moment stehen blieb und sich empört und hilfesuchend umschaute. Youba und ich riefen ihm zu, sich nicht provozieren zu lassen. Wir waren schließlich hier, um einen 5000 km Lauf zu absolvieren und uns nicht auf verrückte Nahkämpfe mit feigen Störern einzulassen. Ich setzte über mein Handy eine Art Hilferuf ab. Doch das war wohl gar nicht mehr nötig, denn dank der Kameraüberwachung der Ballone waren bereits Helfer alarmiert worden, die mit Geländewagen zu Hilfe eilten, gefolgt von einem peruanischen Polizeiwagen. Doch noch bevor die bei uns ankamen, hatten sich die Sprungläufer schon wieder aus dem Staub gemacht. Youba glaubte gesehen zu haben, dass sie weit entfernt auf einen Pickup aufsprangen, jedenfalls waren sie plötzlich verschwunden. Wir Athleten wurden von der Rennleitung per Funk aufgefordert, den Lauf nach Plan ruhig und so entspannt wie möglich fortzusetzen. Nach etwa einer Stunde folgte der nächste Staffelwechsel. Dort wurde ich von unseren Helfern sofort mit Fragen überhäuft. Ich schilderte, was passiert war und jemand übersetzte es für die Polizisten, die ebenfalls dorthin gefolgt waren. Nachdem die sich das angehört hatten, schien ihnen aber der Vorfall nicht dramatisch genug, um Maßnahmen zum Schutz der Läufer gegen gezielte Störungen zu treffen. Jedenfalls beschlich mich ein ungutes Gefühl“, schloss He seinen Bericht.

„Sie hatten euch also nicht direkt angegriffen, nicht auf euch eingeschlagen oder so?“ Fragte Arr nach.
„Nein, soweit war es beim ersten Mal nicht gekommen. Es war schlicht eine Unverschämtheit, maskiert und mit diesen Sprungschuhen vor uns her zu laufen, dann wieder neben uns aufzutauchen, als wollten sie in ihrer schwarzen Maskerade uns den Buhmann machen. Durch diese Sprungfederschuhe waren sie ja fast 50 cm größer als wir. Sie schauten auf uns herunter und trieben in dieser Weise ein Einschüchterungsspiel mit uns.“
„Ja klar, aber richtig heftig wurde es doch schon am nächsten Abend, als sie Youba – oder wie hieß der nochmal – in den See gerissen hatten.“
„Ja, das war Youba. Aber inzwischen bin ich davon überzeugt, dass sie es eigentlich auf mich abgesehen hatten. Denn beim nächsten, dem dritten Mal in Ajabaca an der peruanischen Nordgrenze zu Ecuador hatten sie mich endlich in ihre Gewalt gebracht. Das ist ihnen nur gelungen, weil sie zu dritt mit Tarnkappe und Sprungschuhen über mich herfielen, einen wehrlosen Läufer, der mitten im Wettkampf war. Gibt es einen feigeren Angriff als so etwas?“
Arr nickte heftig. „Da hast du recht. Dann haben dich die Schweine in ihr Lager bei Cachaquito gebracht. Und dort hast du unseren ehemaligen Zimmerkollegen Yushiao vom Schanghaier Kinderheim wiedergetroffen.“
„Nein, den habe ich schon vorher getroffen. Denn er war das Oberschwein, das mich mit einer Kopfnuss bewusstlos geschlagen hatte, gefesselt und mir vor seinen Mitschweinen an die Eier gegangen ist, als ich wieder wach war.“
„Wie? Er hatte es auf deinen Schwanz abgesehen? Ist der denn schwul? In Schanghai hat man aber davon nichts gemerkt“, warf Arr ein.
„Nein, er ist ein Oberschwein, ein Schwulenhasser. Er wollte mich demütigen und vor den anderen lächerlich machen. Aber das Stärkste war, dass er sich später im Camp vor mir als Kaisersöhnchen aufbaute. Das muss ihm ein großes Anliegen gewesen sein, mir seine kaiserliche Herkunft zu demonstrieren. Ich wurde auf einen Stuhl gefesselt und er spielte mir die Ankleideszene, die sie damals per Video verbreitet hatten, in echt noch einmal vor. Jedenfalls teilweise. Er stand in Hemd und Hose mit ausgebreiteten Armen da und ließ sich von zwei Typen, die für ihn den Diener spielten, einen reich mit Insignien der Dynastie bestickten Kaisermantel überziehen und ein Schwert aushändigen, das er breitbeinig in voller Montur waagerecht über seinem Kopf hielt. Dann sprangen noch zwei weitere Subalterne herzu und stellten sich mit ihren gezückten Waffen so um ihn auf, dass er zusammen mit seinem eigenen von einem fünfeckigen Schwerterkranz umgeben war. Mit ihm in Herrscherpose als Lotusblüte in der Mitte bildeten sie vor mir eine lebendige Skulptur als Inkarnation des Tatoosymbols, durch das wir damals die rassistische Verbrecherclique identifiziert hatten.“

„Xiao hatte das herausgefunden“, korrigierte Arr und fuhr fort mit der Frage: „Aber wie bist du ihnen denn eigentlich entkommen?“
„Ja, das war hart“, He holte tief Luft, „zum Glück setzten sie mir ausreichend und gutes Essen vor. Offensichtlich waren sie darauf eingestellt, mich für längere Zeit bei ihnen zu behalten. So weit ich verstanden habe, wollten sie durch mich die chinesische Regierung erpressen, um Yushiao als rechtmäßigen Nachfolger der Qin-Dynastie anzuerkennen.“
„Du meinst, sie versuchten durch deine Entführung die chinesische Staatsführung zu zwingen, wieder einen Kaiser einzusetzen?“
„Nein, das wäre Unsinn. Nein, sie wollten durch Yushiao so etwas wie einen genetisch begründeten Rechtsanspruch auf das Familienerbe der Qin geltend machen. Das allein hätte schon ausreichend viel Unruhe gestiftet, um die Umsturzziele der Sekte voranzutreiben. Durch die Wiederbelebung von alten DNA-Strukturen in ihrem Klon Yushiao erhofften sie sich ein materielles und wohl vor allem auch politisches Erbe zu erschleichen.“
„Und wieso sollte das durch deine Entführung erreicht werden?“, fragte Arr.
„Weil sie mich als Beweis präsentieren wollten, um in einem Klonskandal, den sie um unser Heim im Schanghaier Childrens Hospital entfachen wollten, den chinesischen Staat bloßzustellen.“
Arr zog die Augenbrauen hoch und kommentierte: „Aber da haben sie sich ganz schön die Finger verbrannt.“
„Ja, richtig. Und nicht nur die Finger.“

„Und wie hast du es geschafft, da heraus zu kommen?“
„Wenn ich jetzt zurückdenke, erscheint mir alles viel einfacher als es damals für mich in Wirklichkeit war. Zuerst musste ich in den ersten Tagen das Vertrauen meiner Bewacher gewinnen. Leider sprachen die nur Spanisch. Aber ich spürte, dass sie von dem Inkalauf gehört hatten und mich als einen der teilnehmenden Extremsportler erkannten. Davor hatten sie Respekt. Also kamen wir ins Gespräch, wenn man das so nennen konnte, und ich hatte ihnen klar gemacht, dass man in der Nacht den Mars sehen konnte, wohin die Amerikaner zurzeit unterwegs sind. Marte – Marciano – Americano. Einer von ihnen hatte mich sogar einmal heimlich an die Hand genommen. Aber ich hütete mich davor, eine Affäre mit meinen Bewachern anzufangen.“
„Wieso denn, dann hättet ihr doch gemeinsam abhauen können“, warf Arr ein.
„Genau das eben nicht. Um dort weg zu kommen, durfte ich keinen Mitwisser aus ihren Kreisen haben. Denn einem ihrer eigenen Männer nachzustellen, wäre ihnen erheblich leichter gefallen. Nein, ich brachte ihn dazu, so nachlässig mit dem Schlüssel umzugehen, dass ich ihn mir in einer der Nächte aneignen konnte, ohne dass er es merkte. Außer meinen leichten Sportsachen vom Inka-Lauf, hatte ich nichts anzuziehen. Also gaben sie mir neue Kleider. Allerdings bestand ich darauf, meine Schuhe zu behalten. Sonst wäre meine Ausdauer beim Laufen erheblich beeinträchtigt worden. Die brauchte ich, um eine lange Laufstrecke durchzuhalten. In den letzten Tagen als Gefangener hatte ich darauf geachtet, ausreichend Nahrung zu bekommen. An Wasser konnte ich zwei Flaschen als Vorrat für die Flucht mitnehmen. Sonst brauchte ich erst einmal nichts, um ihnen in der Nacht, mental gut vorbereitet, heimlich davon zu laufen. Meinem Gefühl nach hatte ich Richtung Westen die besten Chancen, möglichst schnell weit weg zu kommen. Ich lief die ganze Nacht durch. Dafür war ich ja gut genug trainiert. Ich musste mich nur jetzt unnachgiebig an markanten Bergen bzw. Horizontstrukturen orientieren, um nicht unbewusst sinnlos in einem großen Kreis zu laufen und am Ende ungewollt bei meinen Peinigern wieder anzukommen. Am meisten hatte ich davor Angst, dass sie mich per Hubschrauber auftrieben und wieder in Unsichtbarkeitsanzügen über mich herfielen. Ich gönnte mir auf meiner Flucht nur kurze Ruhepausen. Obwohl ich die ganze Nacht nicht geschlafen hatte, ließ ich keine Müdigkeit in mir aufkommen. Die Gegend ist dort praktisch menschenleer. Mir war klar, dass jeder, der in der Nähe ihres Lagers lebte, damit auch unter ihrer Kontrolle stand. Aber das konnte ja nicht endlos für alle Entfernungen vom Camp gelten. Als Extremsportler wusste ich, wie ich mit meinen Kräften haus zuhalten hatte. Darum suchte ich mir ein Versteck, in dem ich wenigsten ein oder zwei Stunden Schlaf finden konnte. Danach lief ich wieder einen halben Tag, bis ich endlich auf eine Schnellstraße stieß. An der habe ich mich orientiert, um mich nun weiter Richtung Norden vorwärtszukämpfen. Und da, als hätte ich es geahnt, stieß ich schließlich auf einen Menschen, der Lamas hütete. Er war gerade dabei, seine zerstobenen Tiere – es waren nicht mehr als sieben Stück – wieder unter Kontrolle zu bringen. Ich lief auf ihn zu, was ihm glücklicherweise gerade sehr zupass kam. Denn durch mein Erscheinen wurden die Lamas genau dahin gescheucht, wo er sie auf der Weide haben wollte.  Das war wohl der Grund, warum der mürrisch erscheinende Mann im fortgeschrittenen Alter mir unerwartet freundlich begegnete. Ich stammelte ihm etwas vor, was ich selbst nicht ganz verstand. Aber er sah mir an, dass ich Hilfe brauchte und nahm mich mit in seine Hütte, die nicht weit entfernt ziemlich versteckt an einem Hang lag. Offenbar lebte er hier alleine. Er bot mir gleich etwas zu trinken und zu essen an. Meinem ersten Eindruck nach war er komplett Selbstversorger. Und dann! Dann kam erst die wahrhaft große Überraschung: Kaum hatte ich den letzten Bissen Maisbrot mit Bohnensuppe heruntergeschluckt, da öffnete sich die Tür und herein kam – du wirst es kaum glauben – Pico. Du kannst dir vorstellen, dass der Kleine genauso wie ich aus allen Wolken fiel, als er mich dort sitzen sah. Doch dann breitete sich auf seinem jugendlichen Inkagesicht ein so freudiges Lächeln aus, dass ich aufsprang und den Jungen in die Arme schloss.
Dann fing plötzlich ein Geschnatter auf Spanisch an, dass mir Hören und Sehen verging. Ich begriff kein Wort. Aber der Alte und der Kleine schienen sich bestens zu verständigen, und es war klar, dass es in ihrer aufgeregten Konversation um mich ging.“ He lächelte seinen Bruder an: „Aber jetzt muss ich los“, setzte seinen Kopfbügel auf und umarmte ihn herzlichst. Arr war glücklich, denn auf seinem Brillendisplay erschien sein Klonzwilling, wie er es von klein auf gewohnt war.