Unerwartetes Geschenk
Arr war mit sich zufrieden. Es hatte sich gelohnt, seinem Bruder nachzulaufen und sich zu vergewissern, dass er ihm nicht weggenommen wurde. Mochte sich seine Besorgnis als unbegründet erwiesen haben, aber jetzt hatte er ein Tabu gebrochen und sich damit freier und selbstsicherer gemacht. Er hatte bewiesen, dass er seinen Zwillingsbruder umarmen konnte, wann er es wollte.
Arr näherte sich der Arbeitersiedlung und schaute sich nach Zeichen einer Bushaltestelle um. In dieser frühen Stunde, es war kurz vor 6:00 Uhr, wurden üblicherweise die Leute zur Arbeit gefahren, da musste irgendwann ein Wagen vorbei kommen. Er hatte die ersten Häuser entlang der Straße erreicht. Hier und da war ein Fenster erleuchtet, aber er sah kein Bushalteschild. Also ging er weiter. Vielleicht gab es einen Dorfplatz. Es dämmerte und langsam schien Leben in die Ortschaft zu kommen. Nicht weit entfernt verließ gerade jemand sein Haus. Arr beeilte sich, um den Menschen nach der Bushaltestelle zu fragen. Es war eine Frau, in ein Kopftuch gehüllt. „Bus nach Antafagasta?“, fragte er unbeholfen. Die Frau schaute kaum auf und wies mit der Hand nur wortlos in Richtung der Straßenführung. Endlich sah er weiter vorne ein Schild. Tatsächlich standen dort schon zwei Männer.
Arr wiederholte seine Frage. Die Männer nickten. Er wartete mit ihnen. Wie ein Hüne überragte er sie, nahm aber so wie sie eine ausdruckslose Lass-mich-in-Ruhe-Miene an. Kommunikation war nicht angesagt. Die Sonne kündigte sich mit einem rotgoldenen Schimmer am Horizont an. Die ersten Kinder kamen aus den Häusern, um von ihren berufstätigen Eltern noch vor der Arbeit in Kinderhorte oder zur Schule gebracht zu werden. Der Bus kam nicht. Er hatte Verspätung. Die Zahl der Wartenden neben Arr hatte sich auf sechs erhöht. Er beobachtete schräg gegenüber Jugendliche mit ihren Fahrrädern. Sie hatten sich offenbar für den gemeinsamen Schulweg getroffen und erwarteten noch Freunde. Plötzlich zeigte einer der Jungen zur Bushaltestelle herüber. Arr schaute sich um, um festzustellen, was ihre Aufmerksamkeit weckte. Einer der Jungen - er hatte die typischen Gesichtszüge und die markante Nasenform der Inkas - fuhr zur Bushaltestelle herüber. Freudig erregt fixierte er Arr und starrte ihn an, dass Arr etwas verwundert zurücklächelte. Der Junge stieg von seinem Fahrrad, das er einfach auf den Boden gleiten ließ, und kümmerte sich nicht um die Wartenden Siedlungsbewohner an der Haltestelle. Beseelt schritt er auf den riesigen Arr zu. Dabei kramte er in seiner Hosentasche und zog einen glatten, daumengroßen Stein hervor. Er reckte sich zu dem Riesen hoch und winkte ihm kurz aus dem Handgelenk, dass der sich zu ihm herunter beugte. Dann flüsterte ihm der Junge ins Ohr: „Ecco Amico“, gab ihm ganz flüchtig einen Kuss auf die Wange, ergriff Arrs Hand und drückte ihm den Stein hinein. Als Arr sich den eiförmigen Klumpen in den Fingern noch überrascht ansah, da war der Junge schon zurück zu seinem Fahrrad gelangt, aufgesprungen und hastig davongeradelt.
Arr schaute sich verwundert um. Die Leute neben ihm wichen aus und blickten zur Seite. Sie schienen entrüstet über den Fremden zu sein. Endlich kam der Bus. Mit keinem der Mitfahrenden entwickelte sich ein Gespräch. Hätte er ihre Sprache verstanden, dann hätte er zu hören bekommen, dass sie sich über die schwulen Sportler empörten, die ihre Jungen verdarben.
Arr fühlte den Stein in der Tasche. Was sollte er nun damit? Warum hatte der Junge ihm den zum Geschenk gemacht? Er drehte das glatte schwarze Etwas in seiner Hand. Es war granit- oder lavaartig und erinnerte an Mondgestein.
Wenn er doch nur wieder Verbindung zu He hätte, dachte Arr, gemeinsam hätten sie sicher schnell eine Lösung des Rätsels gefunden. Natürlich, jetzt wurde Arr klar, dass der Junge wahrscheinlich in ihm He zu erkennen glaubte. Er hatte ihn für He gehalten, dem er demnach vorher begegnet sein musste. Zu dumm, dass er nicht mit He sprechen konnte. Arr war klar, dass er abwarten musste, bis der Lauf vorüber war und He wieder sein Kopfgeschirr tragen konnte, um mit ihm wie gewohnt über alle Entfernung hinweg in Kontakt zu treten.
Überfall auf Youba
Dann passierte etwas seltsames. Es war schon dunkel. Die Laufstrecke, aufs Ganze gesehen hatten sie erst ein Drittel bewältigt, führte am Titikakasee entlang auf einem wunderschönen Pfad nicht weit vom Ufer. Youba, der für die Australier lief, war der letzte einer Gruppe von drei Läufern, die eigentlich, drei verschiedenen Teams angehörend, gegeneinander, aber nun in kurzen Abständen hintereinander liefen. Der Nachtlauf war über mehrere Stunden vom Mondlicht erhellt. Aus Sorge um die Läufer in der Dunkelheit waren die Begleittrupps verstärkt worden. In der Nacht fuhr zusätzlich zur automatischen Ballonüberwachung im Abstand von zwanzig bis dreißig Metern ein Teamfahrzeug hinter den Läufern her. Heute Nacht war He der Fahrer. Er folgte gemächlich tuckernd dem Sportler, während er hinter dem Lenkrad mit dem Schlaf kämpfte und unentwegt bemüht war, dem Läufer den Laufgrund durch die Lichtkegel seiner Wagenscheinwerfer zu erhellen. He hatte einige Stunden Erholungszeit für den nächtlichen Sondereinsatz geopfert. Es war eben anders nicht zu machen, wenn den aktiven Sportlern angemessener Schutz gewährt werden sollte. Und plötzlich traute He seinen Augen nicht. Er schüttelte heftig seinen Kopf, um sich hell wach zu machen. Aber, ob er es wahr haben wollte oder nicht, da hampelte der Youba plötzlich vom Wegesrand weg, näherte sich zappelnd dem Seeufer und ließ sich wild gestikulierend ins Wasser fallen. Dann verschwand er vollends darin mit ungewöhnlich viel Geplansche und Spritzen. He hatte den Wagen nicht schnell genug zum Geschehen hin lenken können, sodass die Scheinwerfer in die leere Nacht schienen und er vollends auf den Mondschein angewiesen war, um zu verfolgen, was da plötzlich in den Extremsportler gefahren war. Die anderen beiden Wettläufer hatten nichts davon bemerkt und waren vorschriftsmäßig weitergelaufen. He hielt an, sprang aus dem Wagen, lief zum Ufer und rief laut Youbas Namen. Erst nach Minuten ungewissen Entsetzens konnte er einen prustenden Kopf auf der Wasseroberfläche nicht weit von seinen Füßen ausmachen. Gott sei Dank war der Mann wieder zu Sinnen gekommen, dachte He. Er reichte ihm die Hand, um ihm aus dem Wasser zu helfen. „Sag mal, was war denn da in dich gefahren?“ fragte er den pudelnassen Sportler. Nach Luft ringend konnte der noch kein Wort über die Lippen bringen. Er brauchte jetzt erst einmal ein Handtuch und strebte hechelnd zum Fahrzeug. Dort gab es eine Decke, die er sich um den nassen Körper schlug. Zitternd setzte Youba sich auf den Beifahrersitz. „Sie haben sich unsichtbar gemacht“, stieß er dann hervor und fuhr, immer noch außer Atem, fort: „Ich habe sie kurz vorher gehört. Man konnte sie nicht sehen. Nur unscharfe Schatten schoben sich einem vors Gesicht. Es müssen drei Männer gewesen sein.“ He lauschte mit aufgerissenen Augen und Youba begann sich zu beruhigen: „Dann hatten sie mich gepackt, in den See gezerrt und mich so lange unter Wasser gedrückt, bis ich Panik bekam und Seewasser schluckte. Dann ließen sie mich wieder los und schwammen weiter zum See hinaus. Sie trugen seltsam gerippte Taucheranzüge.“
„Wie kann das sein? Wie kann man sich unsichtbar machen?“ fragte He verwundert.
„Es ist eine neue Technik“, wusste Youba als Erklärung, „durch die einfallendes Licht auf ein mit Nanospiegeln beschichtetes Material umgeleitet statt in üblicher Weise reflektiert wird. Offenbar hatten sie ihre Ninoprenanzüge damit präpariert. Das schwache Mondlicht kam ihnen selbstverständlich dabei zugute.“
Youba hatte sich wieder gesammelt. Einen modrigen Geruch verwesender Algen hatte er mit ins Wageninnere gebracht.
„Gib mir trockene Kleider, schnell“, sagte er und schon hatte er sich der nassen Hose und des Hemds entledigt. Auch die Schuhe waren voll Wasser. „Willst du jetzt etwa weiterlaufen?“
„Was denkst du denn?“ He sprang ins Innere des Geländewagens, um außer den Wechselkleidern auch nach trockenen Ersatzschuhen zu suchen. He schob die nassen Kleider beiseite. Er fand dabei einen fingergroßen Fetzen Plastikfolie oder Ähnliches an Youbas durchnässtem Sportshirt. So etwas diente normalerweise zum Schutz hochglänzender Oberflächen gegen Kratzspuren. Als er es gegen die Wageninnenbeleuchtung hochhielt, erkannte er darin ein Wasserzeichen, das einem chinesischen Schriftsymbol ähnelte.
„Da, schau mal, das hing an deinen Kleidern. Hast du eine Ahnung, wo das herkommt?“ fragte er Youba. Der schüttelte den Kopf.
He fuhr fort:„Ich müsste es ja wissen, aber das Zeichen sagt mir nichts“.
Youba zog die vollgesogenen Laufschuhe aus und kippte das Wasser heraus. „Damit kann ich trotzdem problemlos weiterlaufen“, sagte er unbeirrt. Er wollte durch neue trockene Schuhe keine Druckstellen an den Füßen riskieren. Das Zittern hatte aufgehört. „Es sind ja keine zehn Kilometer mehr bis zur Ablösung. Bis dahin sind die bestimmt wieder trocken.“ Und schon stieg er aus dem Wagen und startete durch, in seinen Laufrhythmus schnell wieder zurückfindend. He blieb nichts anderes übrig, als mit dem Fahrzeug in angemessenem Sicherheitsabstand dem Unentwegten zu folgen. Plötzlich erinnerte er sich, dass das chinesische Zeichen der Folie im Japanischen ja eine ganz andere Bedeutung als im Chinesischen haben mochte. Er nahm sich vor, später dem nachzugehen. Jetzt informierte er erst einmal die Wettkampfleitung per Handy über den Vorfall. Vor allem war er auf die Kameraaufnahmen erpicht, die der Begleitballon vom Überfall der Unsichtbaren festgehalten haben musste. Der fliegende Begleiterballon war auch mit Infarotkameras für Nachtaufnahmen ausgestattet. Die Hightech-Anzüge der Störer mochten einfallendes Licht verfremden, aber die Abstrahlung von Körperwärme war wohl kaum zu unterdrücken. Die eingesetzten Nachtsichtkameras waren hochempfindlich.
„Wir sind eben von unsichtbaren Männern überfallen worden“ gab He nach Quito durch. Klar, dass der schläfrige Wettkampfbeobachter dort in seiner Nachtschicht auf so etwas nicht vorbereitet war. Schnell rappelte der sich auf und schaute sich die Bilder der Überwachungskameras aus der zurückliegenden halben Stunde an. Jetzt vernahm He durchs Telefon entsetzte Ohs und Ahs.
Der Kampfrichter sah in den Aufzeichnungen der Infrarotkamera drei Wärmezentren sich auf den Läufer zubewegen. Im Unterschied zu dem überwältigten Sportler waren sie ohne klare Konturen. Ihre Umrisse verloren sich im grau-grünen Nachtbild. Da glücklicherweise der angegriffene Läufer, Youba, keinen großen Schaden erlitten hatte, sodass etwa sein Team auf Unterbrechung des Wettkampfs hätte bestehen müssen, entschied die Wettkampfleitung, den Vorfall erst zur Halbzeit zu behandeln. Aber allenthalben herrschte von nun an größte Besorgnis.
Halbzeit
Zur Halbzeit des Inkalaufs war eine eintägige Unterbrechung geplant, in der sich die Mannschaften erholen sollten. Vor allem war es die einzige Gelegenheit während des 5000-km-Laufs, bei der sich die Teams vor Erreichen des Ziels komplett zusammenfinden konnten, um sich zu besprechen und für die zweite Streckenhälfte taktische Entscheidungen zu treffen. Außerdem sollten sie sich in Cusco Fragen der Presse stellen.
Der Tag war trüb. Es nieselte ein wenig. Die Touristen am Machu Picchu begrüßten die ungewöhnliche Extremsport-Veranstaltung als willkommenes Kultursportereignis. Die Läufer verstanden sich als Chaskis und ließen durch ihre Sportveranstaltung die weitgehend verschüttete Kultur der Inkas wieder auferstehen. Händler boten auf ihren Standläden Nachbildungen der Chaski-Ausrüstung als Souvenirs an. Da gab es Lammfellschuhe im Stil der Meldeläufer, Muschelhörner, die die Boten zu ihrer Ankündigung bliesen, und Steinschleudern, die ihrer Selbstverteidigung dienten. Selbstverständlich konnten die Touristen auch die Knotenschnüre kaufen, die als Staffelstäbe und Informationsträger fungierten. Entweder dienten sie damals als Gedächtnisstütze für mündlich mitgeteilte Nachrichten oder sie enthielten in den Knoten codierte Mitteilungen, die vom kundigen Empfänger gelesen und verstanden wurde. Bis heute war die Anordnung der Knoten und Schnüre nicht enträtselt. Die Reiseveranstalter hatten Informationsstände aufgebaut. An anderen Ständen wurde Essbares verkauft.
Die Mehrheit der Mitglieder aller drei Teams, außer den gerade um den Halbzeitsieg kämpfenden Läufern, war inzwischen mithilfe ihrer Fahrzeuge eingetroffen. In der nächsten Stunde wurde der Staffelträger des Gewinnerteams erwartet. Ein paar Übertragungskameras für die Medien waren zu sehen. Die Veranstalter hatten einen Großbildschirm für das Straßenpublikum aufgestellt. Außerdem machte eine Lautsprecheranlage mit unangemessen lauter Musik und inhaltslosem Zeitüberbrückungsgerede auf das Ereignis aufmerksam.
Die Zentrale der Jury lag in einem unscheinbaren Gebäude. Dort beobachteten die Juroren auf mehreren Bildschirmen mit Argusaugen den Hergang des Inka-Laufs und hatten die Leistungen der Extremsportler ständig zu bewerten. Sie erhielten von jedem Läufer Bildübertragungen aus mehreren Perspektiven.
Sie verfolgten die Athleten sowohl von den unbemannten Begleitballons als auch von der Kopfkamera des Läufers aus. Je nach Bedarf setzten sie zusätzlich ferngelenkte Kolibri-Filmgeräte ein, die wie Kolibris vor den Läufern geräuschlos schwirrten. Schließlich griffen sie wenn nötig auf Videorekorder zu, die auf Begleitfahrzeugen installiert waren. Außerdem liefen von jedem aktiven Läufer die medizinischen Überwachungsdaten bei den Kampfrichtern ein. Auf Basis all dieser Informationen beurteilten drei unabhängige Kampfrichter die Leistung jedes Teams in jedem Laufabschnitt. Sie waren wie die Läufer selbst rund um die Uhr im Vierschichtenbetrieb beschäftigt.
Für diese Megaaufgabe die richtig qualifizierten und offiziell anerkannten Juroren zu gewinnen, sie hier in Cuzco und später vor Quito einzuquartieren, sie einzuweisen und mit allen erforderlichen Mitteln zu versorgen, war eine anerkennenswerte Leistung der Gay-Sports-Organisation.
Die Kampfrichter waren seit zwei Wochen Tag und Nacht so unermüdlich und diszipliniert wie die Läufer im Einsatz. Sie residierten im ersten Stock des Hauses am Platz des Zwischenzieleinlaufs. Dank glücklicher Umstände konnten sie es zwei Wochen lang für ihre Zwecke mieten. Aus dem Fenster überblickten sie den Platz, der nun wie von einem Straßenfest beseelt war.
Es hatte geheißen, dass die drei Läufer des letzten Abschnitts vor der Halbzeit ab 15:00 Uhr übertragen würden. Die Laufabschnitte der letzten Staffel fielen unterschiedlich aus. Denn jedes Team hatte nach jeweils eigenen Optimierungsgesichtspunkten den Verlauf ihrer Strecke festgelegt.
Die Berichterstattung zeigte die Wettkampfathleten in drei Bildern auf einem Großschirm. Darauf wurden die Menge der noch zu bewältigenden Laufkilometer, die bisher erreichte Punktzahl des Teams, die Zeit und die Bonuspunkte des aktuellen Läufers eingeblendet. So konnte das Publikum die Staffelläufer trotz getrennter Positionen gleichzeitig vor der Halbzeit verfolgen. Das Großgerät stand erhoben auf einem Gerüst, über dem ein straßenbreites Transparent gespannt war mit der Aufschrift „Inka Trace Run 2043“ und darunter „World Gay Sports Organisation“. Die bunten Fahnen der Schwulen mit den sechs Spektralfarben umflatterten es farbenfroh. Allerdings stach das bekannte Spektrum an diesem Ort weniger ins Auge. Denn es hob sich von der textilen Farbenpracht der Andenvölker kaum ab, die die Straßenverkäufer hier im Touristenbereich aufdringlich betonten.
Inzwischen hatte die Sonne den Himmel wieder erobert. Sportfestliche Atmosphäre herrschte unter den Zuschauern, die in der Calle de Llulla von Cuzco auf die Wettläufer warteten. Es war eine Sackgassenabzweigung der touristischen Hauptstraße, in der sonnenbebrillte Touristen ameisengleich einen ständigen Strom der Auf- und Abwärtsbewegung bildeten. Die meisten Touristen hatten sich mit festem Schuhwerk zur Wanderung auf den Inka Pfad zum Machu Picchu gerüstet. Zu kurzen Shorts trugen sie bunt bedruckte T-Shirts. Als Vorsorge gegen hereinbrechende Kälte hatten einige eine Jacke um ihre Hüften geknotet. Fast jeder führte im Rucksack oder in einer Umhängetasche eine Wasserflasche mit sich. Durch die laute Musik angelockt, schauten viele interessiert in die mit Wimpeln geschmückte Seitenstraße. Lautsprecherstimmen klärten über den bevorstehenden Einlauf der Staffelwettkämpfer und über den historischen Hintergrund des Events auf. Helfer verteilten Handzettel, die ebenfalls über den Zusammenhang des Sportereignisses mit der Inkageschichte informierten. Damit die Läufer ungehindert ihr Ziel erreichten, ließ das städtische Ordnungsamt auf der stark bevölkerten Hauptstraße einen schmalen Pfad durch Sichtbanderolen abgrenzen. Der führte zur Seitenstraße in den vorbereiteten Zieleinlauf. Außerdem war genehmigt worden, dass Ordner den gekennzeichneten Bereich frei hielten.
In der regen Geschäftigkeit fiel kaum auf, dass sich in der Nähe vom Ziel eine Gruppe von etwa zehn Demonstranten um ein hochgehaltenes Papierschild formierten. Es trug die Aufschrift „Homosexualität ist eine Kardinalsünde“. Zwei Frauen, die der Kleidung nach zu urteilen Nonnen waren, gehörten dazu. Und einer der Männer, der dunkel gekleidet war, mochte ein Vertreter des hiesigen Klerus sein. Die anderen neben ihnen wirkten ebenfalls nicht Vertrauen erweckend.
Das große Transparent der Veranstaltung, das die Straße über dem Monitorgerüst überspannte, war auf der einen Seite mit Sisalschnüren an einem Fensterkreuz im Stockwerk direkt über der Jury befestigt. Dort tauchte plötzlich ein junger Mann auf und mühte sich mit einem Messer in heftigen Sägebewegungen das gespannte Seil an der oberen Befestigung zu durchtrennen. Dazu lehnt er sich auf der Fensterbank stehend weit hinaus, glitt aber ab und versuchte Halt an dem Seil zu bekommen, das er gerade durchschnitt. Also strauchelte er und fiel aus etwa zehn Meter Höhe auf die Straße. Dort blieb er regungslos liegen. Entsetzte Schreie. Aufregung erfasste die Menge. Ein Krankenwagen wurde gerufen. Gleich waren die Sportärzte zur Stelle.
Sie vermuteten eine Gehirnerschütterung, wenn nicht gar Schädelbruch. Das Transparent, nur noch an drei Stellen befestigt, war diagonal übereinander geklappt, sodass es nicht mehr zu lesen war. Während nun alle Aufmerksamkeit dem Verunglückten galt, lief der erste Extremsportler ein. Er musste sich mit den Ellbogen durch die aufgebrachte und abgelenkte Menge den Weg zum Ziel bahnen. Wegen des Unfalls und wohl vor allem durch die kleine Gegendemonstration von Kirchengemeindemitgliedern entmutigt, verzog sich der Bürgermeister heimlich. Mit Amtskette behangen, sollte er an des Inka-Königs statt von den Sportchaskis feierlich die Knotenschnüre in Empfang nehmen. Jetzt ließ er erklären, er stünde nicht mehr zur Verfügung. Ein Kampfrichter musste schnell einspringen und die geschnürte Botschaft von dem erschöpften und etwas verwunderten Siegerkandidaten in Empfang nehmen, um wenigstens der amtlichen Zeitnahme dieses Laufs genüge zu tun. Der Transparentabschneider kam bewusstlos ins Krankenhaus.
Statt den Läufern galt nun dem Verunglückten das besondere Interesse der lokalen Presse. Und da die wenigen internationalen Medienvertreter in der Zeit, während sie auf die nächsten beiden Sportler warteten, auch nichts Besseres zu tun hatten, nahmen auch sie sich des Fenstersturzthemas an. Infam war, was eine der Lokalzeitungen auf die Frontseite setzte:
„Junge schwer verletzt durch Fenstersturz bei Schwulensportveranstaltung“ im Artikel hieß es dann mit hinterhältiger Suggestion: „Hatte der Junge sich den Zudringlichkeiten der Schwulen zu entziehen versucht, als er aus dem Fenster springend zu entkommen versuchte?“ Erst durch derartige Negativpresse nahm die Öffentlichkeit von jetzt an den Inka-Lauf überhaupt als Schwulen-Veranstaltung wahr. Ab jetzt scherte sich kein Reporter mehr um die Läufer. Die internationalen Extremsportler waren zur Staffage für obskure Bildgeschichten über die Unglücksstelle degradiert geworden.
Jetzt machten die Rechten im Lande ihrer Empörung über die Schwulen Luft und zügelten kaum mehr ihren Hass. In einer rechtsradikalen Publikation hieß es sogar: „In unserer Kultur wurden in früheren Jahrhunderten die ‚schönen Jünglinge’ den Göttern geopfert. Da gehören sie auch heute noch hin. Bringt die schwulen Sportler den Göttern dar!“ Dazu war eine makabre klassische Zeichnung im Hieroglyphenstil abgebildet, die die Blut spritzende Enthauptung eines historischen Menschenopfers darstellte. Das Piktogramm stammte nicht von den Inkas, sondern gehörte zur Mayakultur. Doch das spielte bei den Schwulenhassern keine Rolle.
Die Wettkampfleitung erwog, den Lauf wegen des Unfalls und der mit falschen Gerüchten angeheizten homophoben Antistimmung abzubrechen.
Doch schließlich hielten sie es für falsch, klein beizugeben. Sie setzten die Veranstaltung am nächsten Tag wie geplant fort. Nach dem Vorfall am See und nun diesem deprimierenden Ereignis machte sich ein wachsendes Unbehagen auch unter den Sportlern und ihren Begleitern breit. Dennoch ließen sich die Teams nicht beirren. Aber sie waren jetzt wachsamer. Die drei Mannschaften verbündeten sich sozusagen gegen den homophoben Feind und liefen die folgenden Streckenabschnitte als Gruppe aus drei Wettstreitern in Sichtweite. So verloren sie sich nicht aus den Augen und konnten sich im Falle von Belästigungen oder Angriffen gegenseitig helfen. Dementsprechend hatten sie von nun an auch ihre Überwachungsballons so angeordnet, dass einer voraus, einer direkt über ihnen und einer hinterher flog. Natürlich hielten sie ihre vereinbarten Wechselpunkte sorgfältig ein, die ja je Team verschieden waren. Aber es tat der Dreierpulkbildung keinen Abbruch, wenn wegen des Staffelwechsels einer der Drei zeitversetzt abgelöst wurde. Man lief so, dass man sich gegenseitig im Blick behielt. Auch zur Bewältigung der Unwegsamkeiten sprachen sie sich ab, damit nicht unnötig der Blickkontakt zueinander unterbrochen wurde. Von nun an liefen die drei Zwanzigmannteams weniger gegeneinander als vielmehr gemeinsam gegen eine schwulenfeindliche Welt.
Die Jury hatte ihre Gerätschaften in Windeseile zusammengepackt und ließ sich zum Flughafen ‚Alejandro Velasco Astete‘ bei Cusco bringen. Von dort flog sie in einer Privatmaschinen nach Quito, um sich wie geplant am südlichen Ende der ecuadorianischen Hauptstadt im Vorort La Granja einzuquartieren. Dort sollte die Siegerehrung stattfinden.
Doch dazu kam es nicht mehr. Der nächste und damit letzte Überfall auf die Läufer des Inka-Path-Run fand in Ajabaca, einer kleinen Bergstadt auf 2715 m Höhe statt. Von dort sollte die anschließende Laufetappe über die Grenze zum ecuadorianischen Lindros führen. Das war eine Art grüner Grenzübergang, der durch den historischen Inka Pfad vorgegeben und in den Verhandlungen über die Durchführung des Megawettlaufs mit den Behördenvertretern beider Staaten abgeklärt war.
Bei den Sportteams schlich sich nach drei Wochen fast ununterbrochener Aktivität langsam ein Stimmungsverschleiß ein. Entweder war das Gelände zum Querfeldein-Laufen enorm schwierig oder der harte Belag endloser Landstraßen wirkten auf die Dauer ermüdend. Hinzu kam, dass den Läufern die zunehmende Kälte in der Gebirgsregion zu schaffen machte. Aber auch die fast durchgängige Ignoranz oder gar Ablehnung, die ihnen von der Bevölkerung entgegenschlug, empfanden sie als bedrückend und demoralisierend. Mit bewunderungswürdiger Ausdauer kämpften sie sich in eine Region vor, die von einem ihrer gefährlichsten Gegner kontrolliert wurde.
Yushiaos Entführung
Vor zehn Jahren hatte ein Paar, das vorgab verheiratet zu sein, Yushiao unter falschem Namen nach Südamerika geflogen. Sie erzählten ihm, dass er ein Prinz war und nun einige seiner Leibwächter und seinen Hofstaat kennenlernen sollte. Er bekam ein paar Leckereien serviert, die ihn müde und träge machten. Sein unerfahrenes schläfriges Gehirn ließ alles mit ihm geschehen. Der Verlust seines Kontakts zu den Mitzöglingen vom Klon-Kinderheim traf ihn nicht sonderlich schwer. Auch dass er Xiao und Peixian und die anderen Betreuer nicht so bald wiedersehen würde, schien er gut zu verkraften. Jedenfalls solange er momentan weiter nichts vermisste. Es schmeichelte ihm, als ein Besonderer behandelt zu werden, den man sich etwas kosten ließ. Das war entscheidend für seine Widerstandslosigkeit. Was da wirklich mit ihm vorging, konnte der Dreizehnjährige weiß Gott nicht erahnen, geschweige denn durchschauen. Dennoch! Der Junge war nicht dumm. Mochte auch das Online-Kaiserprinzspiel ihn dazu ermutigt haben, sich in kindischem Wiederholungszwang die Rolle des versteckten Thronfolgers zu eigen zu machen. Dennoch kamen ihm immer wieder grundlegende Zweifel, ob das, was er da imaginierte, der Wirklichkeit entsprach. Denn die Ausbildung, die die Klonkinder des Children Hospital genossen, war das Gegenteil von Verdummung durch Medien. Vielmehr war den am Beginn ihrer Pubertät stehenden Jungen bereits so viel Weltgeschichte, Grundlagen von Naturwissenschaften und Denktraditionen vermittelt worden, dass man ihren Horizont nicht mit ein paar raffinierten Märchenfantasien abstecken konnte. Wie jedes gesunde Hirn arbeitete Yushiaos ständig, d.h. Tag und Nacht daran, Konsistenz in die Verschmelzung seiner bereits verinnerlichten Wirklichkeitsinterpretationen mit neuen Erfahrungen zu bringen, die er als Edelentführungsopfer machen musste. Der männliche Partner der Frau, sein Vater auf den Reispapieren, war plötzlich verschwunden. Yushiao sah ihn nicht wieder.
Eine seiner tiefst bohrenden Fragen war, wo sich denn seine kaiserlichen Eltern aufhielten und was mit ihnen geschehen war. Doch sein schwerstes Problem war, dass er niemanden hatte, dem er diese Fragen stellen konnte. Entweder verhielten sich die Leute so unterwürfig, dass er es für unangebracht hielt, einem Diener Fragen zu seiner Herkunft zu stellen. Oder er fand nicht ausreichend Zeit und Verständigungsbereitschaft, um Vertrauen zu den neuen Leuten aufzubauen, die sich jetzt um ihn kümmerten. Die Frau, die gemäß der gefälschten Reisedokumente vorgab, seine Mutter zu sein, war durchaus freundlich mit ihm. Aber Yushiao wusste auch, dass das nicht für bare Münze zu nehmen war, was sie da dem peruanischen Zollbeamten über ihn erzählt hatte, als sie die Grenzbarriere im Flughafen von Lima passierten. Dass ihr das Täuschungsmanöver gelang, erzeugte zwischen Pseudomutter und Pseudosohn zwar eine auf Schelmerei gründende Einvernehmlichkeit, verschaffte dem Dreizehnjährigen aber keinesfalls jenes Moment von Vertrauen, das der Junge gebraucht hätte, um mit den Antworten dieser Frau die Lücken in seinem Selbstverständnis zu schließen.
Die Frau, die Yushiao auf der Reise nach Peru betreute, hieß Yoko Katanama. Sie war als einziges Kind bei Japanischen kaisertreuen Eltern aufgewachsen und hatte eine sehr hohe Intelligenz entwickelt. Deren Erfolge widmete sie zeitlebens der schaurigen Tradition ihrer Familie allein aus Dankbarkeit. Ihr übereifriger Gehorsam hatte sie dazu bewogen, sich einer geheimnisumwobenen, religiös-mythischen, rechtsradikalen Nichiren-Sekte anzuschließen.
Den Auftrag, Yushiaos nach Lima zu begleiten empfand sie als einen Vertrauensbeweis der Organisation. Sie hatten ihr den einzigen durch Erbgut legitimierten chinesischen Kaiserprinzen anvertraut. Das war die höchste Anerkennung in ihrer langjährigen geheimen Gefolgschaft der Sekte in Kyoto, die sie erleben durfte. Sie war stolz, an der Aktion beteiligt zu sein, die sie als Herausforderung verstand an „die dekadent verwestlichten quasseldemokratischen Kriegskapitulatoren“ ihres Landes und an „die maroden korrupten Machtklüngel des kulturlosen chinesischen Massenstaates“. So hieß es in den Pamphleten der Sekte.
Ein Hubschrauber holte das falsche Mutter-Sohn-Duo vom Flughafen von Lima ab und brachte es zum südamerikanischen Hauptquartiere der Organisation nach Cachaquito.
Für den Jungen war das alles neu. Interessiert sog er die Erlebnisse der letzten Tage in sich hinein, ohne viel zu sprechen. In einem der Flachbauten des Stützpunktes wurde ihm ein Zimmer zugeteilt, das geräumig war. Dem Jungen fiel auf, dass die Fenster von außen vergittert waren. Nun war auch das Familiengeplänkel mit seinen Reisebegleitern vorbei. Stattdessen bekam er zwei uniformierte Personenschützer zur Seite, die in den Räumen nebenan untergebracht waren. Yoko Katamana holte ihn kurze Zeit, nachdem der Junge sein Zimmer bezogen hatte, ab und führte ihn dem Kommandoführer des Trainingslagers vor. Vorher erklärte sie dem Kind kurz die Gebäude und das militärische Übungsgelände. Später irgendwann, so versprach sie ihm, würde er auch die Flugzeuge im Hangar, den Kontrollturm und die Anlage um den Exerzierplatz herum besichtigen dürfen.
Es folgten Jahre, die Yushiao wohl kaum als glücklich empfand, obwohl ihm als kaiserlichem Erbgutträger von seiner Umgebung ein seltsamer Respekt entgegengebracht wurde. Der kam ihm aber aufgesetzt und erzwungen vor. De facto hatte er einiges zu ertragen. Die Führung zwang ihn in ein militärisches Ertüchtigungsprogramm, das wohl kaum auf Teenager zugeschnitten war.
Die überzogenen Erwartungen seiner Trainer betrafen sämtliche Körpereigenschaften, so auch seine pubertäre Manneskraft. Ihm wurden Videos von Mädchen vorgespielt, von denen er sich eine aussuchen sollte. Nach altkaiserlicher Manier bemühten sich die Entführer, das junge Geschlechtsorgan seiner Bestimmung zuzuführen. Dazu bedurfte es mehrerer Versuche, bis sich herausstellte, dass zarte weibliche Hände besser damit umzugehen vermochten als seine eigenen. Gott sei Dank, der Prinz war nicht schwul. Die beiden Bodyguards, die die anregenden Vorgänge per Videoüberwachung im Nachbarraum mitverfolgten, hatten ihre helle Freude an dem, was sie sahen. Dadurch mitgerissen, halfen sie sich gegenseitig, um mit ihrem Schützling bis zum Abspritzen mitzuhalten. Der Prinz war meistens schneller, aber er blieb unbehelligt und einsam. Er nahm zwar gemeinsam mit anderen jungen Männern an militärischen Ertüchtigungen teil, aber in seiner Freizeit hielten ihn seine Bewacher von der Mannschaft fern. So sollte verhindert werden, dass der junge Möchtegern-Aristokrat sich privat mit seinen Scheinuntergebenen unangemessen verbrüderte.
Die Besatzung auf dem Stützpunkt war trotz ihrer auffälligen Betriebsamkeit kaum mit der eines kaiserlichen Regierungssitzes zu vergleichen. Eher mit der eines unterbelegten Gefängnisses mit einem Überschuss an Wachpersonal.
Dennoch konnte man die Leiden des Pseudoprinzen in gewisser Weise mit denen des Exkaisers vergleichen, der nach seiner Absetzung als junger Mann in der Verbotenen Stadt eingesperrt war. Trotz üppiger Versorgung kam er sich verlassen vor und langweilte sich, während ihm die politischen und gesellschaftlichen Veränderungen vor der Palasttür verheimlicht wurden.
Fast hatte Yushiao in seiner neuen Umgebung vergessen, dass er in der virtuellen Welt der Computerspiele als Kaiserprinz agiert hatte. Ihm war das Gaming entzogen und statt dessen körperliche Ertüchtigung verordnet worden.Eines Tages führte ihn Yoko, seine Betreuerin, zur medizinischen Station des Anwesens und ließ ihm Speichel und kleine Gewebeproben entnehmen. „Um deine kaiserliche Herkunft zu beweisen“, erklärte sie dem Jungen, der keinen Grund sah, sich gegen die schmerzfreie Behandlung zur Wehr zu setzen.
„Wo ist denn mein Großvater geblieben“, fragte er sie bei dem Stichwort Herkunft und erinnerte sich an seinen Besucher damals im Schanghaier Kinderheim. „Was für ein Großvater“, fragte Yoko überrascht zurück.
„Der mich damals im Kinderheim besucht hatte“, antwortete Yushiao. „Das war nicht dein Großvater. Er hat dich angelogen“, sagte Yoko. Yushiao wusste nicht, was er darauf sagen sollte. Nachdem Yoko die kleine medizinische Prozedur abgeschlossen hatte, fuhr sie fort: „Dein wirklicher Großvater ist der letzte chinesische Kaiser und du bist sein einziger Enkel.“ Yushiao sah sie prüfend an: „Also stimmte das doch mit dem Kaiserprinzspiel“ triumphierte er nach einem Moment des Nachdenkens.
„Nicht ganz, aber fast. Du wirst es selbst sehen“. Dann forderte sie ihn auf, ihr zu folgen. Sie gingen ins eins der Nachbargebäude, in dem eine Art Fotostudio aufgebaut war. Dort warteten zwei als Kaiserdiener kostümierte Männer, um den inzwischen Fünfzehnjährigen wie einen Thronfolger einzukleiden. Die Scheinwerfer waren für Lichtverhältnisse einer aristokratisch intimen Atmosphäre eingerichtet. Als Hintergrund diente ein großes Abbild der Ankleideräume von Pu Yi, das auf einer Studiowand aufgezogen war. Yoko forderte den Jungen auf, sich auszuziehen und in für ihn bereitgehaltene altmodische Unterwäsche vor die Kamera zu treten. Dann umgaben die beiden Diener ihn würdevoll Stück für Stück mit kaiserlichen Textilien, bis er dem letzten Herrscher ähnlich auf einem klassisch chinesischen Sitzmöbel mit stolz erhobenem Haupt Platz nahm.
So sollte es jedenfalls auf dem Video erscheinen, das ein Videofachmann der Stützpunktbesatzung nach zahlreichen Takes zu einem überzeugenden Dokument einer kaiserlichen Ankleideszene zusammenstellte. Um die Echtheit und Aktualität der Aufnahme zu belegen, ließ er während der Bekleidungsprozedur sichtbar auf einem Monitor die neuesten Meldungen einer japanischen Presseagentur miterfassen.
Vorerst bekam Yushiao das Video aber nicht zu sehen und er selbst kam auch nicht auf die Idee, danach zu fragen. Yoko erklärte ihm, dass mit diesen Aufnahmen der Welt mitgeteilt würde, dass er der rechtmäßige Nachfolger auf dem chinesischen Kaiserthron war. Diese Ankündigung bewahrte er zwar in seinem Herzen. Aber an seiner Situation im Sektenstützpunkt von Cachaquito änderte das nur wenig.
Die neofaschistische Organisation hielt sich finanziell durch Security- Einsätze bei weit verstreuten Großveranstaltungen in Brasilien, Mexiko und den Südstaaten der USA über Wasser. Die ließen sie sich bestens bezahlen.
Vor den Männern, die ein Schwerterring-Tatoo als Sekten-Markenzeichen am Halsansatz zur linken Schulter trugen, hatten selbst die übelsten Hooligans Respekt. Manche Hitzköpfe kamen sogar auf die Idee, sich bei ihnen zu bewerben. Besonders lukrativ waren Aufgaben des Objekt- und Personenschutzes in Mexiko und Bolivien bei Auftritten von prominenten Mafiavertretern. Das konnte selbst bei nur einem Einsatz mehrere Millionen einbringen. Allerdings lief die Sektenorganisation dabei Gefahr, mit offiziellen Kampfeinheiten der Nordamerikaner konfrontiert zu werden. Das versuchten sie, möglichst zu vermeiden.
Inzwischen lagen die Filmaufnahmen für die kaiserliche Ankleideszene ein halbes Jahr zurück. Der junge geadelte Sektensoldat Yushiao ließ sich wieder einmal wehmütig lauschend von fernen Einsätzen seiner Kameraden bei Rockkonzerten, Baseballspielen und Stierkampfveranstaltungen berichten, da wurde er zum Kommandanten des Camps gerufen. Unerwartet fragte der ihn nach seinen schon Jahre zurückliegenden Erlebnissen im Schanghaier Kinderheim aus, wollte einiges über den Betreuer Xiao wissen und war sehr an Informationen über die damaligen Mitschüler interessiert. Yushiaos letzter Kontakt zu ihnen lag ja nun schon mehr als drei Jahre zurück. Doch der Kommandant wollte wissen: „Wer ist ArrHe Fengenberg?“ Und zeigte dem Jungen ein Bild. „Das ist ArrHe Huo“, erkannte Yushiao. „Was kannst du mir über ihn erzählen?“ setzte der Kommandant das Verhör fort. „Nichts Besonderes. Er und sein Bruder LuKa wurden alle paar Monate zum Flughafen gefahren, um ihre Pfleger aus Deutschland abzuholen, die speziell für sie immer wieder ausgetauscht wurden. Manchmal waren das Deutsche Erzieher, aber meistens Chinesen.“
Der Kommandant zeigte ein Foto von Xiao, „gehörte der auch dazu?“
„Ja, das ist Xiao“, erklärte Yushiao erfreut.
„Danke, mein Junge“, sagte der Kommandant und mit einer kurzen Handbewegung wies er ihn zu gehen.
Yushiao erfuhr nicht, was mit seiner Person in der Medienöffentlichkeit vor sich ging. Denn auf dem weitläufigen Gelände waren Internetzugänge allgemein versperrt aus Gründen der Flugüberwachung. Jedes Funksignal störte, hieß es als Begründung des Netzverbots. Damit war natürlich für den Kaiserprinzen auch sein geliebtes Online-Spiel mit entfernten Netzteilnehmern, wie er es vor Jahren fast süchtig gespielt hatte, ausgeschlossen. Jetzt, drei Jahre nach seiner Entführung aus Schanghai, da die Organisation den Presserummel um den Kaiser-Enkel anzufachen begann, wurden die Einschränkungen elektronischer Kommunikation über die Grenzen des Camps hinweg noch verschärft. Selbst die Mädchen, die ihm von Zeit zu Zeit zur Befriedigung seiner männlichen Bedürfnisse zugeführt wurden, mussten ihre Handys vorher abgeben und Leibesvisitationen über sich ergehen lassen. In den Monaten der ersten Medienreaktionen auf die Bekanntmachung Yushiaos kaiserliche Herkunft war ihm jeder Kontakt verwehrt.
Tarnkappenkommando
Dem Teenager waren seit Langem die Tattoos an seinen Bewachern aufgefallen wie auch an anderen Sektensoldaten, mit denen er seine Kampfausbildung zu absolvieren hatte: Jener Schwerterkranz mit einer Lotusblüte im Zentrum. Das wollte auch er auf seinem linken Schulterblatt am Halsansatz tragen. Er fragte seinen Vorgesetzten, vor dem er salutierte und um Anhörung seines Anliegens bat. Der gab seinem kaiserblütigen Rekruten zwar zur Antwort, dass er sich um eine Erlaubnis kümmern werde. Doch selbst nach Tagen blieb er ihm die Antwort schuldig. Das wurde dem 16 -jährigen zu bunt. Somit suchte er auf eigene Faust den Mann auf, der im Lager den Männern die Tattoos einbrannte. Der hatte keine Hemmungen, das auch bei dem Prinzen zu tun. Und weil er wusste, dass der Junge ja schon seit mehr als drei Jahren mit dazugehörte, begann er auf der Nackenhaut des Jungen die ersten Fixpunkte für die fünf Klingen des Schwerterkranzes zu markieren. Die komplette Ausarbeitung sollte in den nächsten Tagen folgen. Yushiao war darüber so stolz, dass er vor seinen Bodyguards den Mund nicht halten konnte. Die Neuigkeit gelangte auf schnellstem Weg zum Kommandanten. Der rief den Jungen gleich zu sich und erklärte ihm einiges über seine Situation hier im Norden von Peru.
„Du trägst das Erbgut der Qing-Dynastie in dir. Darum bist du dazu bestimmt, dich eines Tages weit über den Rang eines Kriegers zu erheben, dem dieses Tattoo als Beweis seiner bedingungslosen Gefolgschaft eingebrannt wird. Doch du selbst darfst dieses Zeichen nicht tragen, weil du nicht durch die Mitgliedschaft in unserer Einheit, sondern weit mehr durch die Zugehörigkeit zu deiner Jahrhunderte alten Familie hervorgehoben bist. Wir sind nichts als deine Diener und Krieger. Eines Tages werden wir dich der Welt vorstellen und erklären: Hier seht ihr den nächsten vom Schicksal auserkorenen Herrscher Asiens. Und sie werden dich von allen Seiten prüfend anschauen. Da soll keiner ein Tattoo auf deiner kaiserlichen Haut finden, das von deiner edlen Herkunft nur ablenken würde.“ Es war ungewöhnlich, dass der Kommandant sich auf lange Erklärungen vor dem Jungen einließ. Aber er wollte, dass der als Prinz deklarierte Teenager den Mythos von der Wiederauferstehung der Qin-Dynastie mitspielte und selbst dazu beitrug, den Massen in Asien eine glaubwürdige Identifikationsfigur anzubieten. Das schmeichelte natürlich Yushiao und er bekundete sein Einverständnis mit diesem Plan, obwohl er sich der Prinzenträume, die er jahrelang durch das Computerspiel genährt hatte, inzwischen entwachsen fühlte.
Doch bemühte sich die neofaschistische Sektenorganisation, bestand neuerdings darauf, dem jungen Mann neben den körperlichen Ertüchtigungen auch mehr Wissen anzutrainieren.
Sie wollten ihn für spektakuläre Auftritte in der Netzöffentlichkeit fit machen. Weil dem Heranwachsenden verwehrt blieb, das Lager zu verlassen, wurden Lehrer und Fachleute eingeflogen, um den Pseudoaristokraten durch Privatunterricht auf Vordermann zu bringen. Das zog sich über Jahre hin.
Im Zuge ihrer ständigen Einsatz- und Kampfbereitschaft bemühte sich das Kommando um neueste Kampftechniken. Dafür kam ihnen ein revolutionäres Produkt aus Japan zugute, das wie eine Tarnkappe wirkte. Zog man es über einen Stein oder Pfosten, wurde er in einem Abstand unter zwei Metern für ein menschliches Auge unsichtbar. Nichts ahnend lief man geradewegs auf ein derart verhülltes Objekt zu. Wer es nicht im letzten Moment als Hindernis erkannte, stieß hilflos dagegen und stolperte darüber. Um festzustellen, ob das Verhüllungsmaterial für Schutz-und Kampfeinsätze taugte, testete der Hersteller es an sich bewegenden Menschen. Es bestand aus kleinen Spiegeln in Nanogröße, die auf einer Art Folie aufgebracht waren, die wie Glitzerstoff aussah. Die Millionen Mikrospiegel dienten dazu, Licht um das Objekt herumzuleiten, das sie umhüllten. Licht, das von vorne aus der Richtung des Betrachters fiel, wurde von der Oberfläche gänzlich geschluckt. Dadurch erschien sie als farbloser Nebel. Nun musste das Bild von der Welt hinter dem Objekt nahtlos das Nebelloch füllen. Das erreichten die Techniker, indem sie die Lichtstrahlen, die von hinten auf das Objekt auftrafen, durch die Nanospiegel seitlich herumleiteten. Nach vorne hin wurden die herumgeführten Lichtwellen wieder entzerrt. Sie gaben auf diese Weise die Bildinformationen preis, die normalerweise im Schatten verloren gingen. Für den Betrachter wurde so ein schlüssiges Bild ohne Objekt hergestellt, aus dem das Objekt gelöscht zu sein schien. Dieser Effekt, statt der Frontalansicht des Objekts dessen verdeckten Hintergrund sichtbar zu machen, war aber nur zu erzielen, wenn das Spiegelsystem sich an der Blickrichtung des Betrachters orientierte. Stand dieser beispielsweise links vor dem Objekt, dann musste ihm der Bildeindruck aus dem Bereich rechts dahinter zugeleitet werden. Das erreichten die Ingenieure dadurch, dass sie die Millionen Mikrospiegel an den Augen des Betrachters ausrichteten. Dass sich Millionen von Bildpunkten automatisch auf die Blickrichtung zweier Menschenaugen einstellten, hatte bei 3D-Bildschirmen längst Anwendung gefunden. Aber jetzt galt es, die manipulierten Bildpunkte nicht auf einem glatten Schirm verzerrungsfrei zu erzeugen, sondern auf der unebenen Oberfläche des zu verbergenden Gegenstandes. Aber damit nicht genug. Die Reflektoren auf der Folie musste obendrein dynamisch ausgerichtet werden. Das hieß: Bei sich bewegendem Betrachter, bei sich bewegendem Verhüllungsobjekt und schließlich, wenn beide in Bewegung waren, musste sich das System in Sekundenschnelle den wandelnden Situationen anpassen. Erst dann, wenn es gelang, eine derart raffiniert steuerbares Nanospiegelsystem herzustellen, das wie ein Taucheranzug über den ganzen Körper zu ziehen war, war es möglich, sich vor den Blicken eines Menschen unerkannt zu bewegen. Das System musste in Sekundenbruchteilen jede durch Bewegung verursachte Veränderung der Lichtstrahlenverhältnisse neu berechnen und in Positionen der Millionen Reflektoren umsetzen, die sich an der Stellung der Beobachteraugen ausrichteten.
Yushiao durfte an den Tests und Justierungen der Tarnkappen teilnehmen. Ein großer Spaß war es, wenn er – meistens zusammen mit einem Kameraden – sich unter der Tarnkappe einer Testperson aus ihren Reihen in den Weg stellte und von ihm erst bei Armlängenabstand völlig überrascht wahrgenommen wurde. Da sich die Tarnkappe an der Augenstellung des Opfers orientierte, war herauszufinden, wie sich das Reflexionsunterdrückungssystem bei mehr als einem Betrachter ausrichtete. Sie stellten fest: Bei dicht nebeneinander positionierten Augenpaaren gab es kein Problem. Dann war der Effekt für beide Getäuschte gleich, weil das System sich an einem mittleren Wert der Augenstellung orientierte und bei einer Winkeltoleranz von fast 10° den Tarnkappenträger für beide Augenpaare unsichtbar machte. Sehr wirkungsvoll und äußerst vergnüglich entwickelten sich für die Testgruppe Situationen, in denen sie als Duo auftraten, von dem einer unter der Tarnkappe und der andere unverhüllt blieb. Reizvolle Irritationen erzeugten sie beispielsweise, wenn der Unsichtbare anstelle des Sichtbaren sprach, um einen Dritten auszutrixen. Denn das menschliche Gehör vermag in der näheren Umgebung sehr präzise Geräuschquellen zu lokalisieren und kann Charakteristika einer Stimme genauestens unterscheiden und, wenn vorher schon gehört, den erinnerten Personen eindeutig zuordnen. Für den Getäuschten wirkte das, als ob der Sichtbare mit einer fremden Stimme sprach, die nicht aus seinem Munde, sondern irgendwo aus einer unsichtbaren Quelle in seiner Nähe kam. Yushiao war Feuer und Flamme für dieses wunderbare Spielzeug und mochte den Spiegelanzug nach derartigen Tests kaum wieder ablegen. Das Ding war allerdings wahnsinnig teuer und nicht unempfindlich wegen der höchst anspruchsvollen Oberflächenbeschichtung aus ausrichtbaren Nanospiegeln. Die technologische Errungenschaft war allerdings noch in der Entwicklung. Kinderkrankheiten des neuen Produkts mussten erst noch behoben werden.
Die Faschistensekte hatte sich dem japanischen Tarnkappenhersteller als Testkundenpartner angedient. Das brachte ihr erhebliche Verbilligung beim Erwerb des Produkts ein, verlangte ihr aber auch viel Geduld bei den Probeeinsätzen ab. Zur Justierung der Systeme und zur Korrektur von auftretenden Fehlern waren eigens zwei Produktentwickler aus dem japanischen Nagoya, wo der Sitz der Tarnkappen-Firma war, eingeflogen worden. Über das höchst begehrte Produkt war schon viel in Fachzeitschriften geschrieben worden. Doch außer bei einer kurzen Präsentation des Herstellers vor ausgewählten Kunden hatte es noch niemand zu Gesicht bekommen. Viele der Interessenten waren nun seit Monaten darauf erpicht, eigene Erfahrungen mit der Tarnkappe zu sammeln. Aber der Nutzungsvertrag mit der Sekte war exklusiv und die Herstellerfirma hatte darauf gesetzt, in einem für Hightech-Entwicklungen unverdächtigen Land wie Peru und in der abgeschiedenen Enklave der Sekte freiere Hand für ihre Tests zu haben als daheim in Japan.
Yushiao, inzwischen zwanzigjährig, interessierte sich nicht nur für die auf dem Stützpunktgelände durchgeführten Anwendungsversuchen der Wunderwaffe. Sondern er wollte auch das technische und physikalische Hintergrundwissen darüber erwerben, was den Jahrtausende alten Traum von der Tarnkappe Wirklichkeit werden ließ. Aber am meisten drängte ihn die Idee, unter dem Schutz des Unsichtbarkeitsanzugs den Bereich des Stützpunktes einmal zu verlassen und unerkannt die Welt da draußen zu erleben. Denn er hatte das Gefühl, diesbezüglich eine Menge nachholen zu müssen. Yushiao kam zugute, dass er im Schanghaier Internat Japanisch als zweite Fremdsprache gelernt hatte. Bei den Produkttests konnte er sich mit den japanischen Ingenieuren nicht nur auf Englisch, sondern auch in deren Muttersprache verständigen. Das erwies sich für ihn besonders von Vorteil, wenn es um genaue Verhaltensanweisungen beim Anlegen und Ausprobieren des Spiegelanzugs ging. Im Zusammenhang des Tarnkappenprojekts erschien er wichtiger zu sein als seine beteiligten Kameraden, die, nur spanisch sprechend, größere Schwierigkeiten mit den Japanern hatten. Für Yushiao trat zeitweilig sogar in den Hintergrund, dass er eine Kaiser-Rolle zu erfüllen hatte. Die war ihm ohnehin nur aufgezwungen worden. Kaiser hin oder her, er fühlte sich allzu oft eingeschlossen und zurückgelassen. Besonders wenn irgendwelche Kameraden von ihren Erlebnissen bei Auswärtseinsätzen als Sicherheits- oder Schutztruppe prahlten, befielen ihn neidische Gefühle. Mit der Tarnkappe glaubte er nun ein Thema gefunden zu haben, das ihn über die Grenzen seines Sperrbezirks hinaus tragen konnte.
Er zeigte jetzt auch mehr Interesse am Sprungschuhlaufen. In der Kombination Tarnkappe und Sprungschuh konnte er zur Geheimwaffe der Gruppe werden, dachte er sich. In dieser Ausstattung führte er mit den japanischen Ingenieuren einige Tests durch. Verhüllt durch die Tarnkappe, übte er mit Siebenmeilenstiefeln Blitzeinsätze aus der Unsichtbarkeit. Märchen wurden wahr, dachte Yushiao und stellte sich die Frage, ob auch das des Kaiserprinzen noch anstand, Wirklichkeit zu werden. Wegen seines engagierten Einsatzes wurde er zum Gruppenführer der gerade eine Handvoll zählenden Gruppe der Tarnkappentester ernannt. Beim Rapport vor der Führung des Sektenstützpunktes zeigte sich der Kommandant über die neuen Möglichkeiten bei Kampfeinsätzen sehr erfreut. Er entschied, dass Überraschungseinsätze mit diesen Wundermitteln aus der Luft erfolgen sollten. Tarnkappenkämpfer auf Sprungschuhen sollten von Hubschraubern herabgelassen werden, um dann unsichtbar auf dem Boden zu operieren. Allerdings war bei dem Tarnkappenüberzug zu beachten, dass ein unsichtbar gemachter Mensch keine Waffen im Anschlag halten konnte. Sondern alles, was er bei sich trug, musste er unter der hochkomplexen Spiegelfolie verbergen. Rucksack und Gürteltasche außen an einem Tarnkappenträger beispielsweise wurden nicht, wie man hätte erwarten können, geisterhaft in der Landschaft schwebend wahrgenommen. Die Störwirkung überdeckender Teilen verzerrte vielmehr die Erscheinung des gesamten Trägers ins Schemenhafte. Sie ließ ihn unkontrolliert verschwinden und optisch zerhackt wieder auftauchen, wie bei einem gestörten Fernsehbild.
Noch als die ersten Verhandlungen des Weltsportbundes und der internationalen Schwulensportorganisationen mit Vertretern der drei Staaten Ecuador, Peru und Chile anliefen und zum ersten Mal in den Medien erwähnt wurden, da fragten schon einige Vertreter der Ortschaften am Streckenverlauf beim Kommando der Sekte an, ob sie für Ordnungsdienste und Schutzaufgaben bereitstanden. Jedoch nicht etwa, um den Parkour der Extremsportler zu schützen, sondern vielmehr Protestveranstaltungen und Demonstrationen gegen die schwulen Sportler zu unterstützen.
Der Kommandant winkte ab. Bis zum Beginn des Sportereignisses waren es noch mehr als zwei Jahre. Und was die Proteste dagegen anging, traute er den Antreibern und Hetzern nicht zu, ausreichend viele Leute in spektakuläre Aktionen zu versetzen, die einen Schutzeinsatz seiner Leute sinnvoll und lohnend erscheinen ließ. Erst als die Daten und Profile der teilnehmenden Extremsportlern publiziert wurden, stieß er auf das Bild von ArrHe, und er überdachte seine Absage. An den Chinesen konnte er sich schmerzhaft erinnern, weil der sich vor 9-10 Jahren in der damaligen Schanghaier Pressekonferenz zur Entzauberung des Kaiserprinzen hervorgetan hatte. Immerhin hatten die Erklärungen des Jungen und seines Erziehers maßgeblich zur Abflachung des öffentlichen Interesses an der Erbfolgediskussion über die Qing-Dynastie beigetragen. Die Herkunft des vermeintlichen Prinzen war seitdem infrage gestellt worden. Für den erbrachten genetischen Nachweis schien sich kaum noch jemand zu interessieren. Aus Fachkreisen hatte es geheißen, die untersuchten Erbgutproben seien manipuliert worden. Mit anderen Worten, noch ehe der Skandal richtig begonnen hatte, war er durch die Einlassungen dieses jungen Mannes vor der Presse erstickt worden. Die Diskussion wäre möglicherweise nicht so schnell versandet, hätte die Sekte damals den Jungen Prinzen, also Yushiao, sofort als lebende Person der Öffentlichkeit präsentiert. Aber damals mochten der Kommandant und seine Hintermänner in Kyoto diesen Trumpf noch nicht ausspielen. Vielmehr hofften sie auf eine günstigere Gelegenheit, die chinesische Administration in Bredouille zu bringen.
Jetzt schien sie gekommen zu sein. Denn nun erwies sich das über Jahrzehnte laufende Klonprojekt, von dem sie mit ihrem untergeschobenen Kaiserkuckuckskind bereits profitiert hatten, als geeigneter Angelpunkt, um zur Destruktion der chinesischen Machtinhaber anzusetzen. Das Kuckuckskind im Klon-Nest konnte endlich darangehen, die anderen Küken aus dem Nest zu drängen. Und da tauchte nach geraumer Zeit unerwartet ein ebensolches Küken aus genau demselben Nest gleichsam vor der eigenen Haustür auf. ArrHe Fengenberg als Staffelläufer der deutschen Extremsportmannschaft.