Ihre Browserversion ist veraltet. Wir empfehlen, Ihren Browser auf die neueste Version zu aktualisieren.

Nano-Diät


Um Pilars Sorge wegen des Gamings zu verstehen, musste man sich die Besonderheit der Beziehung zu ihren Söhnen vor Augen führen.
Ab ihrem dritten Lebensjahr hatten die Brüder Mumo, LuKa und ArrHe jeweils eigene Zimmer im Privatbereich des Klinikgebäudes im Frankfurter Oeder Weg bei Pilar, die sie als ihre Mutter ansahen. Während die Zwillinge im vierteljährlichen Wechsel auch in Schanghai zu Hause waren, lebte Mumo, ihr leiblicher Sohn, der kein Klon war, ständig bei ihr ohne regelmäßige Unterbrechungen.
In der Kinderkrippe und von Nachbarn wurden Mumo und Ka für zweieiige Zwillinge gehalten. He kam erst zwei Jahre später als adoptierter Junge dazu. Wegen ihres gleichen Alters wurden sie seitdem wie Trillinge angesehen. Die Leute machten sich wegen ArrHes asiatischen Aussehens keine Gedanken. Private Familienverhältnisse rund um die Fertilisationsklinik zu kommentieren, war nicht die Sache der Nachbarn vom Öder Weg.
Schon als Kleinkinder waren Ka und He mit ihren Klonbrüdern Lu und Arr im ständigen Bild/Ton-Kontakt über Funk. Die Fünf, zwei im regelmäßigen Austausch mit Schanghai, wurden medizinisch umfassend und in höchst anspruchsvoller Weise überwacht. Pilar hatte allen ihren Schützlingen Nanosonden verabreicht, die praktisch sämtliche Organfunktionen bis auf die Ebene der Zellen messbar machten. Die Kinder spürten nichts davon, wenn die Daten berührungslos und verschlüsselt ausgelesen wurden.
Die zahlreich im Körper verteilten Nanoobjekte kommunizierten mit externen Sensoren, die im Haus so installiert waren, dass sofort bei Anwesenheit der Jungen millionenfach Messdaten im Sekundenrhythmus unbemerkt abgegriffen und ausgewertet wurden.
Auf diese Weise machte Pilar und ihr Betreuungsteam den gesamten laufenden Stoffwechsel der Jungen transparent und bot den Medizinern in der Frankfurter Klinik sowie im Childrens Hospital in Schanghai die Möglichkeit, kurzfristig Fehlentwicklungen zu erkennen und darauf zeitnah mit Gegenmaßnahmen zu reagieren.
Pilar gewann von der laufenden Gehirntätigkeit ihrer fünf Söhne eine Unmenge an Informationen. Jede Sekunde flossen aus sämtlichen Körperregionen der Kinder Abermillionen Impulse in einen Sammelspeicher. Der befand sich nicht auf einem bestimmten Rechner oder Speichermedium. Stattdessen strömte die Datenflut aus den Gehirnen in eine sogenannte Wolke. Das war eine ultraverteilte und vernetzte Verwahrform von Informationen. Jeder Datentropfen in der sich weltweit erstreckenden Wolke verband sich mit seinen Nachbarn blitzartig zu Auskünften und Antworten, die ihm ein berechtigter Frager von wo aus auch immer abverlangte. Der Ort der physischen Lagerung der Bits und Bytes war dabei nur schwer nachzuvollziehen. Ständig verschob, kopierte und transferierte die automatische Verwaltung des Speichersystems die Inhalte von einem Datenträger zum anderen, und das in mehrfach verschlüsselter Form. Die fortschreitenden Entwicklungen der Informatik zur Handhabung von Bigdata erlaubte einerseits den ortsungebundenen Zugriff und Allzeitverfügbarkeit seiner Inhalte, verbarg aber, wo und wie sie an physisches Trägermaterial gebunden waren.
Aus diesem aufgetürmten Datengebirge gewann Pilar eine sekundengenaue lebenslange Historie aller bekannten physisch/medizinischen Prozesse der jungen Menschen.  In den Räumlichkeiten dort, wo die Kinder zu Hause waren, in der Frankfurter Klinik sowie im Schanghaier Kinderhospital übertrugen fest installierte Empfänger die Signale der Nanosignale aus den Kinderkörpern. Außer Haus trugen die Jungen besonders ausgestattete Kleidung, um die Aufzeichnung der Nanosignale fortzusetzen. Im Stoff dieser sogenannten Warables waren zu diesem Zweck Hardwareeinlagen eingearbeitete, die der Träger der Kleidung kaum spürte. Die eingewobene Technik verfügte über eine hohe Speicherkapazität und intelligente Kommunikationseinheiten, die mit sehr wenig elektrischer Energie auskamen, um die gewonnen Daten zu halten und bei Bedarf für den Zugriff von außen zugänglich zu machen.  Sie wurde aus der Körperwärme, der Bewegung des Trägers oder zusätzlich durch versteckte Solarzellen gewonnen.
Löste eine Virusinfektion oder eine Stoffwechselstörung bei den medizinisch ständig beobachteten Jungen eine unerwünschte Körperreaktion aus, Stress oder eine ähnliche Erscheinung, dann setzte sofort eine automatische Analyse ein, der Vorschläge für Gegenmaßnahmen folgten.
Im Fall einer Infektion stimulierten die Nanosonden das Immunsystem, um möglichst früh körpereigene Abwehrkräfte zu mobilisieren.
Bei höherer Gesundheitsbedrohung stellte das Überwachungssystem personenspezifische Medikationen zusammen. Nach dem autorisierten Go-Befehl eines Betreuers transportierten die Partikel gezielt Heilmittel an die Problemzonen des kleinen Patienten.
Darüber hinaus interessierten sich die Wissenschaftler besonders für spezielle Sonden, die das Genom der Jungen überwachten. Sie vermochten auftretende Erbgutfehler festzustellen, zu melden und in eingeschränktem Maße sogar zu reparieren, bzw. die Zellen zu entsprechenden Autokorrekturprozessen anzuregen.

Sonden konnten beispielsweise eine Genombereinigung anstoßen, die sich mit typischem Schneeballeffekt lawinenartig über den ganzen Körper ausbreiteten. Auf diese Weise wurden Erbgutdefekte im Laufe der Entwicklung der Kinder verhindert. Die Mikrobiologen, die die unsichtbar kleinen Heilungspartikel bestückten und ausrichteten, griffen dabei auf Verfahren zurück, durch die sie bei Fertilisations- und Klonungsprogrammen Fehlentwicklungen der Stammzellen vor der Wiedereinpflanzung der Zygote verhinderten und ausgeglichen. In die Zelle eingeschleuste Nanomaschinchen ergänzten die zelleigenen Prüf- und Korrekturverfahren der Zellkernverdopplung, überprüften DNA-Sequenzbereiche mit besonders hoher Fehleranfälligkeit und korrigierten sie wenn möglich sofort.
Klaus Kellermann und Liu Tschong hatten diese Verfahren Anfang der 20er Jahre entwickelt. Damit konnten sie die hohe Ausfallrate bei Klonungen entscheidend senken und für Menschen überhaupt erst anwendbar machen. Diese Methode stellte außerdem sicher, dass das Erbgut von gleichen Klonen zeitlebens übereinstimmte und bei DNA-Analysen keine Unterschiede aufwies. Von der ununterbrochenen umfassenden medizinischen Totalüberwachung merkten die Kinder kaum etwas.
 Im Gegenteil. Wenn sich ein Krankheitsbefall anbahnte, ersparte ihnen die anspruchsvolle Gesundheitskontrolle unangenehme Eingriffe wie Blutentnahme, Abhören mit dem Stereoskop, Abgabe von Urin und Stuhl.
Spritzen kannten sie praktisch nicht, weil die Nanotransporter die exakt dosierten Heilstoffe viel genauer an ihren Bestimmungsort im Körper beförderten und dort zur Wirkung brachten.

Im Alltag sicherten Pilar und ihre Helfer die Gesundheit der Kinder vornehmlich über die Kontrolle der Ernährung. Dafür erwies sich das nanobasierte Überwachungssystem als äußerst wirksames Hilfsmittel. Es sorgte für eine optimale Dosierung aller lebensnotwendigen Stoffe. Aus den laufenden Stoffwechselanalysen leitete es Bedarfslisten ab und schlug für die Essenszubereitung Mengen und Qualität der Nahrungsmittel vor. Die Einrichtung und Ausstattung von Pilars Küche zeigte, dass sie und ihr eingewiesenes Personal die hoch differenzierten Ernährungsvorschläge des Gesundheitsüberwachungssystems sehr genau umsetzten. Pilar verband Kochkunst mit der Beherrschung biochemischer Laborprozesse. Das zeigte schon die Vorratshaltung ihrer Lebensmittel. Die glich mehr dem Lagerbestand eines mittelgroßen Biochemieunternehmens als Vorratskammer und Kühlschrank eines sechsköpfigen Privathaushalts. Auch fanden sich unter den Küchengeräten spezialisierte Instrumente, als wären sie für ein Molekularrestaurant bestimmt. Gelegentliche Besucher empfanden Pilars Küche wegen der raffinierten Mess- und Dosierungsinstrumente keineswegs abstoßend. Vielmehr bestaunten sie deren hohe Qualität. Sie zollten Pilar neidvolle Anerkennung.
Auch die Jungen hatten Respekt vor Pilars Küche. Selbst unter den Jugendlichen war es „in“, mit dem Genuss von hoch qualifizierten Lebensmitteln anzugeben und Kücheneinrichtungen und Geräte als Vorzeigeobjekte zu behandeln, per Video, versteht sich. In der Hochbegabtenlerngruppe der Leibnizschule in Frankfurt, die die Jungs besuchten, fing einer der Mitschüler damit an, auf seinem Handy die heimische Kochausrüstung seiner Eltern herumzuzeigen.
Da mochten die anderen Gruppenkameraden natürlich nicht nachstehen. He beeindruckte seine Mitschüler mit einem kleinen Filmchen, das Pilar bei der Zubereitung des Sonntagsfrühstücks zeigte. Pilar fand es zwar nicht gut, Informationen über ihren Arbeitsplatz nach außen gelangen zu lassen. Aber sie vermied, die Jungen zu unnötiger Geheimniskrämerei über ihre Privatsphäre zu verpflichten.
Die Küche war also ein von ihren Jungen geachteter, aber auch beliebter Aufenthaltsort. In der Mitte des Raumes war ein großer Arbeitstisch mit eingelassener Kochplatte, an dem die Jungen gerne schon Platz nahmen, während Pilar noch mit der Zubereitung des Essens beschäftigt war. Mutter Pilar konnte nicht ausstehen, dass, noch bevor das Essen fertig war, die Bengel heimlich aus den Kochtöpfen naschten und probierten. Aber sie ließ zu, dass die Jungen vorzeitig in der Küche erschienen, sich an den Kochtisch setzten und ihr bei der Herrichtung der Speisen zusahen. Natürlich mussten sie hier und da assistieren, das ein oder andere aus den Schränken holen, etwas abmessen, wiegen oder bereitstellen.
Aber Pilar betrachtete diese aufmerksame Begleitung ihrer  Essenszubereitung als Gelegenheit, mit den Jungen ins Gespräch zu kommen.
Auch ihre Söhne sahen darin die Möglichkeit, mit Pilar unverfänglich und ungeplant ein Vieraugengespräch zu führen, zumindest solange, bis der nächste Zögling von Neugierde getrieben in die Küche kam und die Privataudienz eines seiner Brüder bei Pilar störte.

Für Pilar war selbstverständlich, ihre Zöglinge individuell nach ihren spezifischen Bedürfnissen zu behandeln.
Die Ernährungskontrolle schrieb für jeden Probanden die Zusammenstellung der Essen strikt vor. Dementsprechend gestaltete sie für jeden Esser die Mahlzeiten nach dessen persönlichem aktuellen Bedarf.
Oft entzündeten sich unter den Brüdern Diskussionen über den Unterschied der eigenen Speisen zu dem, was die anderen Tischgenossen auf dem Teller hatten. Es gab neidische Fragen: Warum kriegt der das und ich nicht? Dann musste Pilar schnell taktisch geschickte Antworten finden, um sich nicht allzu tief in den biochemischen Besonderheiten des einen oder anderen zu verfangen und etwa ungewollt Intimitäten von ihm preiszugeben.
Sie pflegte zu sagen: „Machen wir uns mit der Ernährungsanalyse nicht noch einmal dieselbe Arbeit, die bereits Stoks für uns getan hat.“ Stoks war das Kürzel für Stoffwechselkontrollsystem. Im Haus verwendeten sie es wie den Namen eines Hausbediensteten: „Stoks hat gesagt..“, „Stoks will für dich…“, „Überlass das Stoks.…“ usw.
Seit gut einem Jahr hatte Pilar Stoks Aufgabengebiet erheblich erweitert. Zwar gab es schon zahlreiche Typen von Nanopartikeln, die fähig waren, die Hirnschranke zu passieren und sich an geeigneten Stellen des Gehirns einzunisten, um die neuronalen Vorgänge zu beeinflussen, ohne dabei unerwünschte Nebeneffekte zu bewirken.
Aber ihr war es gelungen, die Mächtigkeit der Miniaturmaschinchen im Zentralnervensystem so zu erweitern, dass sie ihr ungehinderten Einblick in die Arbeitsprozesse des Organs erlaubten.
Sie vermochte praktisch seiner Steuerungsarbeit zuzusehen. Sie beobachtete, wie vom Nervensystem übermittelte Zustandsmeldungen des Körpers in Befehle umgewandelt wurden.
Sie konnte beispielsweise damit genau verfolgen, wie das Neuronengefüge im Kopf eines Menschen beispielsweise eine plötzlich umfallende Kaffeetasse in Bruchteilen von Sekunden wahrnahm und Befehle zum Aufspringen und Auffangen der Tasse auslöste und an die Muskulatur leitete.


Pilars Mutterliebe


Pilar war eine gute Mutter. Sie hatte ihre Mutterrolle gewollt, und fand Erfüllung in der Fürsorge für ihre Kinder. Es war für sie das wahre Leben, diese Balgen um sich zu haben, sie zu füttern, ihre Problemchen lösen zu helfen und sich entfalten zu sehen. Da gab es Freude, Umarmungen, Küsse, Tränen und Tröstungen, Harmonie, Streit und Versöhnung.  
Das war der uralte Sinn einer Mutter: Dem Leben, dem man selbst entsprungen war, die Fortpflanzung der Brut durch Gebären und Aufzucht bis zu ihrer eigenständigen Lebenstüchtigkeit zu sichern. Doch Pilar hatte darüber hinaus eine zweite Bestimmung zu erfüllen: zu erklären, was da so intelligent in uns lebt und vor allem wie es in uns lebt. Sie wollte und musste nicht nur ihr Leben leben, sie wollte und musste es auch ergründen und verstehen.
Sie war eine besessene Wissenschaftlerin, die von einem unersättlichen Erkenntniswillen getrieben war. Dabei war ihr ungestümer Forscherdrang auf ein zentrales Objekt gerichtet: Die Wirkungsweise von Gehirnen in ihrer eigene Lebenswelt.
 Während andere Menschen nach Kompromissen suchten, Beruf und Privatleben in ein angemessenes Verhältnis zueinander zu stellen, gab es für sie nur eine Sichtweise: Leben und Beruf sind eins. Mein Beruf ist, mein Leben zu verstehen. Mein persönliches Leben liefert mir das Forschungsmaterial, um meine wissenschaftsberufliche Aufgabe zu erfüllen. Das war ihre Devise.
Die gebotene strenge Sachlichkeit, mit der sie das Heranwachsen der Kinder beobachtete, protokollierte und analysierte, tat ihrer rückhaltlosen Liebe zu ihnen keinen Abbruch.  
Darin bestand ihre außerordentliche Fähigkeit, bei allem was sie mit Leben erfüllte, sozusagen neben sich selbst als Beobachter, Protokollant und Gutachter zu stehen. Selbstverständlich war das für sie nicht konfliktfrei.
Denn je mehr sie durch ihre Hirnforschung über Zusammenhänge erfuhr, die das Verhalten eines ihrer Kinder oder den Verlauf ihrer Konflikte bestimmten, desto eher beeinflussten ihre Kenntnisse ihre praktischen Entscheidungen. Sie musste befürchten, ein unechtes, nicht mehr authentisches Leben zu führen, das sich in Spitzfindigkeiten, Überbetonung von Nebensächlichkeiten und einer barocken Wissenschaftsbegrifflichkeit erschöpfte, statt Situationen spontan ohne intellektuelle Reflexion richtig einzuschätzen und angemessen zu entscheiden.
Doch Pilar war eine Frau, die mit beiden Beinen auf der Erde stand. Das galt erst recht für sie als Wissenschaftlerin. Sie beantwortete wesentliche Fragen unseres Lebens ganz handfest aus den sichtbar gemachten Prozessen des Gehirns. Pilar gehörte zu jenen Wissenschaftspionieren, die neuronale Vorgänge, die mit Stimmungswechseln eines Menschen zusammenhingen, in Milliarden von Schaltungsknoten des Gehirns beobachten und interpretieren konnten, als wären es Pixel eines Digitalbildes. Das war die Sprache, die es zu beherrschen galt, um der Unschärfe psychologischer Beschreibungen unseres Lebens zu Leibe zu rücken. Es bedurfte harter Arbeit, um dabei tonangebend zu bleiben. Aber Pilar brachte die erforderliche Energie und Unbeirrbarkeit auf. So hatten die Jungen nicht eigentlich unter der intensiven Arbeit ihrer Mutter zu leiden. Sie profitierten eher davon. Sie wussten ganz genau, dass sie uneingeschränkt im Zentrum der Interessen ihrer Mutter standen. Sie liebten ihre trockene Herzlichkeit.

 Pilar Fengenberg erzielte ihre fachwissenschaftlichen Erfolge durch die Aufzeichnung gleichzeitig ablaufender Molekularprozesse in über Tausend verschiedenen Gehirnzellen ihrer Söhne. Sie machte damit für die Wissenschaft sichtbar, wie einzelne Gehirnzellen bei der Ausübung verschiedener Nerven-Funktionen ihr genetisches Programm an unterschiedlichen Positionen der Doppelhelix abgriffen, als arbeiteten sie eine Arbeitsvorlage ab. Pilars Forschungsresultate erbrachten die ersten Nachweise für den Wirkungszusammenhang genetischer Prägung eines Menschen und seiner aktuellen Hirntätigkeit bei der Steuerung seines körperlichen Verhaltens.
Die aufgezeichneten und analysierten Molekularprozesse im Gehirn, über die sie in Fach-Journalen publizierte, entstammten in den meisten Fällen dem Kopf ihres leiblichen Sohnes Mumo. Ermöglicht wurde die Mikrosicht in die Hirntätigkeit des Kindes durch die verabreichten Nanopartikel, die die Bluthirnschranke passierten und sich den Zellkernen der Gehirnzellen anhafteten. Sie wirkten wie Protokollanten, die Niederschriften der einschlägigen Prozesse erzeugten. Externe Sensoren griffen sie zur Weitergabe per Funk ab. Da die Impulse, die das Verhalten eines Menschen ausschlaggebend steuerten, nicht auf einzelne wenige Zellen, sondern vielmehr auf eine ganze Wolke feuernder Nervenzellen zurückgingen, musste Pilar die in Frage stehenden Molekularreaktionen gleichzeitig an einer großen Zahl Zellen nachweisen, die an dem im Gehirn weit verstreuten Synapsenfeuerwerk zur Auslösung auch nur eines Steuerungsimpulses beteiligten waren.
Nur durch Ausdauer, Geduld und präzises Vorgehen gewann Pilar Ergebnisse, die für Veröffentlichungen geeignet waren.
Mumo, ihren leiblichen Sohn, hatte sie dafür auserkoren, um diese Prozesse in seinem Gehirn live zu beobachten. Er hatte Einiges zu ertragen. Oft musste er stundenlang regungslos die Justierungs- und Messprozeduren über sich ergehen lassen. Die Verabreichung der erforderlichen Nanopartikel verlangte eine sehr genaue Dosierung und entsprechende Beobachtung ihrer Verteilung auf die gewünschten Gehirnzellen.
Die Infiltration der Zaubermaschinchen in Nanometergröße verursachte dem Kind hin und wieder kleine Schwindelanfälle, leichte Übelkeit und Schweißausbrüche, aber selten Magenkrämpfe. Waren die Partikel zielgerecht an ihren Bestimmungsorten in den entsprechenden Hirnregionen angekommen, dann stellte sich für den Jungen alsbald wieder Normalität ein. Von der Wirkung der Partikel in seinem Kopf bekam er nichts mit. Sie schränkten ihn in keiner Weise ein. Für die Sensoren, die Pilar an Mumos Kopf anbrachte, waren sie nun ansprechbar und konnten ausgelesen werden. Pilar unternahm mit ihrem Sohn Life-Präsentationen der nanopartikel-gestützten Hirnprozessbeobachtung, allerdings unter dem strikten Verbot von Film und Fotoaufnahmen.
Bei der Life-Vorführung zeigte sie die molekularen Vorgänge nicht in der Ultravergrößerung des Elektronenmikroskops, aber sie machte wellenartig sich ausbreitende Funkenwolken, die von der Gehirntätigkeit des Jungen herrührten, auf einem schwarzen Bildschirm sichtbar. Dafür musste das Kind nicht einmal still sitzen, höchstens mal die ein oder andere Frage beantworten, so dass das Fachpublikum erkennen konnte, dass sein Gehirn unterschiedliche Aufgaben in seinem Kopf mit verschiedenen Funkenwolken erledigte.

So wie um die adoptieren Klonsöhne war Pilar natürlich auch um Mumo sehr bemüht, insbesondere wenn sie direkt mit ihm arbeitete und ihm dadurch besondere Aufmerksamkeit zukommen ließ. Das genoss der Junge. Insbesondere gefielen ihm die Publikumsauftritte vor Wissenschaftlern. Er hatte dann nichts Besonderes zu leisten, sondern musste nur durch geduldiges Stillhalten Einblick in seine molekulare Hirntätigkeit gewähren. Um dem Jungen wenigstens ein Grundverständnis darüber zu verschaffen, was sie da mit ihm durchexerzierte, beantwortete Pilar seine Fragen so, wie es für den Horizont des intelligenten Kindes im Alter von zwölf Jahren angemessen war. Dadurch fühlte sich Mumo ungemein ernst genommen und geschmeichelt.
Es verwunderte nicht, dass er schnell zum größten Fan seiner Mutter avancierte. All die mehr oder weniger unangenehmen Mess- und Aufzeichnungsprozeduren, die sie an seinem Kopf und Körper vornahm, ließ er seit seinem Trotzalter klaglos über sich ergehen, denn er war ihr in Liebe ergeben. Als Zwölfjähriger fühlte er sich hin und wieder schon als männlichen Partner seiner Mutter. Er verstand sich als eine Art Zirkusassistenten der mütterlichen Magierin, die statt riskanter Messerwürfe auf seinen Körper, sensationelle Einblicke in seinen Kopf vorführte.  Er begann von „wir“ zu sprechen, wenn Pilar mit ihm die nächste bevorstehende Vorführung besprach, und meinte auch, sie beschützen zu müssen. Beim Mithören der Wissenschaftlerdiskussionen schaute er verdrossen, wenn ihm nach der Präsentation Fragen oder Bemerkungen zu Pilars Ausführungen vom Tonfall nicht freundlich und ehrerbietig genug erschienen. Oder er triumphierte leise, wenn seine Mutter einen unlieb erscheinenden Kritiker durch schlagkräftige Antworten sprachlos machte. Für sein Überengagement liebte Pilar ihren Jungen umso mehr. Sie achtete darauf, dass er nicht vorlaut wurde, vermied es aber, seine naive Sicht der verbalen Konfrontationen mit ihren Wissenschaftlerkollegen lächerlich erscheinen zu lassen. Ja, sie empfand die Rückhaltlosigkeit seiner Parteinahme als Ermutigung und Stärkung, die sie sich so lange wie möglich erhalten wollte. Trotz der starken Ausrichtung auf seine Mutter fühlte sich Mumo in keiner Weise als Mamasöhnchen. In der Stehpause nach einer erfolgreich verlaufenden Präsentation fragte ihn einmal ein Jungwissenschaftler anerkennend lässig, ob er denn schon eine Freundin habe. Stolz antwortete der gerade 12 Jahre alte mit „Ja, klar“. Als daraufhin der Frager sich erstaunt zeigte, fragte der Zwölfjährige frech zurück: „Wie alt waren Sie denn, als Sie das erste Mal Sex hatten?“
Egal, wie darauf die verlegene Antwort des Erwachsenen ausfiel, Mumo beendete das Thema kurzer Hand mit einem viel- oder nichtssagenden „Aha“ und wandte sich von dem Frager ab.