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Extremsport

 


Der internationale Schwulensportverband verfolgte ein neues Projekt, den Inka-Pfad-Lauf, kurz Inka-Lauf genannt. Dabei handelte es sich um eine Extremsportart, ein Staffellauf, bei dem konkurrierende Läuferteams in der Stärke von je 20 Sportlern eine festgelegte Strecke von Südchile nach Ecuador laufen mussten, die insgesamt 5000 km maß.
Der Lauf folgte den historischen Pfaden des alten Inkareiches und konnte offiziell nur dort als Wettkampf ausgetragen werden.
An dieser Sportart war zunächst eigentlich nichts, was ihr einen besonders schwulen Charakter gab oder für Schwule besonders geeignet gewesen wäre. Aber es war eine Gruppe von ausdrücklich schwulen Sportlern, die seit Jahren die offizielle Anerkennung des Inka-Laufs betrieben. Sie waren Studenten, Dozenten und Assistenten, die explizit als homosexuelle Athleten an der Siegener Universität studierten und arbeiteten.
 Dank ihrer Umtriebigkeit in internationalen Extremsportlerkreisen und nicht zuletzt durch ihre Verbindungen ins IOC, dem Olympischen Komitee, gelang es ihnen, den Inka-Lauf als neue weltweit anerkannte Sportart zu etablieren.
Somit verbuchte der Schwulenverband es als seinen Erfolg, eine eigene neue Sportdisziplin geschaffen zu haben, die von Mitgliederorganisationen zahlreicher Städte, meistens an Universitäten, begeistert unterstützt wurde. Dadurch war der Inka-trail-run drauf und dran, zur Domäne des Schwulensports zu werden, obwohl heterosexuell orientierten Sportlern selbstredend keinerlei Teilnahmebeschränkungen auferlegt wurden. Wer wollte, konnte dahinter die Botschaft vernehmen: Schwule sind nicht nur für Hochleistungssport besonders geeignet, sie setzen darin sogar weltweit neue Maßstäbe.
In dieser neuen Sportart traten Staffelmannschaften von je zwanzig Mitgliedern gegeneinander an und wurden von einer Jury bewertet, die aus Altsportlern mit Weltmeistertiteln im Marathon und Ironman bestand. Der schier endlose Staffellauf erstreckte sich über Wochen, war sehr wetterabhängig und in manchen Abschnitten auf so unwegsamen Gelände, dass in diesen Bereichen eine feste, auf Meter genaue Streckenvorgabe gar nicht möglich war. Begleitende Kameras zeichneten den Einsatz jedes Läufers lückenlos auf. Anhand der Videodokumentation bewertete die Wettkampfjury Belastungen der Athleten durch unvorhersehbare Wetterumschläge, Gerölllawinen oder Überschwemmungen, zusätzlich mit Bonus- oder Maluspunkten.
In der Sportabteilung der Siegener Uni liefen die Vorbereitungen für die Teilnahme am großen südamerikanischen Extremwettlauf.
He hatte für sich entschieden, daran teilzunehmen, obwohl Arr eingewendet hatte: „Haben wir denn nicht schon genug mit den Astronauten-Trainings neben dem Studium zu tun? Warum sollen wir zusätzlich noch durch die Wüste hecheln und unsere Lungen durch Höhenluft und tropische Luftfeuchtigkeit ruinieren?“ He antwortete darauf nur: „Ich habe aber Lust darauf“.
„Bist du etwa scharf auf die anderen Teammitglieder? Wer läuft denn mit?“
He antwortete: „Weiß ich nicht. Alles ist ja erst noch in Vorbereitung. Von unserer Uni machen höchstwahrscheinlich Kai, Yüzir, Konrad und Josua mit. Aber ob wir zusammen in einer Staffel laufen, ist noch nicht abzusehen. Selbst wenn alles bis zum Start klappt, wird es nicht vor Dezember losgehen.“
Arr war überrascht: „Wie? Ihr wollt im Winter laufen?“
„Arr, ich bitte dich! In Südchile ist es Sommer, wenn wir hier Winter haben.“ He war empört über die Ignoranz seiner zweiten Zwillingshälfte.

„Ja, OK. Ist klar. Und was sagt Pilar dazu, hast du mit ihr schon darüber gesprochen?“
„Nein, natürlich nicht. Du weißt doch, dass sie keine Stellung bezieht zu  persönlichen Themen, über die wir beide uns noch nicht geeinigt haben. Sie hat immer gewollt, dass wir mit einer Stimme sprechen, und vermied, uns gegeneinander auszuspielen.
Dir sollte es ziemlich egal sein, ob ich bei dem Lauf mitmache oder nicht. Denn die Zeiten des heimlichen Zwillingstausches sind doch vorüber, oder? Du wirst als Läufer jedenfalls nicht für mich einspringen müssen.“
„Du hast Recht, was den Austausch alle drei Monate angeht: Den gibt es schon seit dem Ende unserer Schulzeit nicht mehr. Aber für mich gilt auch heute nach wie vor: Wo du bist, da bin auch ich. Wenn ich morgens aus dem Schlaf aufwache, ist es, als ob ich zweimal die Augen aufmache, einmal um zu sehen, wo bin ich, und dann um festzustellen, wo bist du, mein Zwillings-Ich. Wenn ich nicht sofort sehe oder höre, wo du dich befindest, ist mir, als sei ich noch nicht vollständig wach. Über 20 Jahre sind wir auf Doppelpräsenz getrimmt worden, He. Das lässt sich nicht einfach abschalten. Du bist mehr als mein Bruder. Du bist mein zweites Ich. Vergiss das nicht.“
„Klar. Mir geht es doch genauso. Was wäre ich ohne dich, mein Spiegel-Ich.“ He lächelte ihn über die Kamera an. „Jetzt geht es aber darum, dass du während der drei bis vier Wochen des Inka-Laufs nicht befürchten musst, den gleichen Strapazen ausgeliefert zu sein wie ich, denn du wirst nicht wie in alten Zeiten gegen mich ausgewechselt werden und brauchst also nicht an meiner Stelle laufen.“
„Das habe ich verstanden. Aber neben der körperlichen Anteilnahme darfst du die seelische nicht unterschätzen. Wo immer ich mich aufhalte, da kann ich dich nicht einfach aus meinem Bewusstsein wegschalten. Während der ganzen Wettkampfveranstaltung werde ich zwangsläufig mit dir erleben, wie du unter Stress stehst, leidest oder dich quälst. Ich werde an deinen psychischen Erfahrungen teilhaben und über unsere audiovisuelle Funkverbindung auf dich aufpassen, dich warnen, vorausschauen, mitdenken und gegebenenfalls dich sogar dirigieren, weil ich mit dir deinen Erfolg, unserer beider Erfolg haben will.“



Das Ende der Doppelpräsenz


Hier hakte He ein: „Das ist es, was ich meinte. Während ich laufe, wird es zwischen uns keine direkte Verbindung geben. Sie wird die ganze Zeit unterbrochen sein. Denn anstelle unserer gewohnten Kopfbedeckungen werde ich die von der Wettkampfkontrolle vorgeschriebenen tragen. Die Läufer werden zwar mit ähnlichen Headsets und Kopfkameras ausgestattet, wie wir sie tagtäglich verwenden. Doch sie haben andere Funktionen und dienen der Wettkampfbeobachtung und eignen sich nicht für unsere Doppelpräsenzeinrichtung. Sie stehen nicht mehr wie gewohnt für Auswertungen zur Verfügung. Laut Wettkampfleitung sind Fremdeinwirkungen per Funkanweisungen an die Teilnehmer während des Laufs nicht zulässig. Neutrale Sportärzte wachen über die Gesundheit der Athleten.“
Arr verstand nicht recht: „Du meinst, während du läufst, kann ich nicht mental bei dir sein. Ich werde nicht mitbekommen, was du siehst, und ich werde dein Gesicht nicht sehen. Ich werde deinen Atem nicht hören, deinen Puls nicht auf dem Display auf und ab kurven sehen? Und ich werde dir nichts direkt ins Ohr sagen können?“ Arrs Gesicht krümmte sich vor Schrecken in ein großes Fragezeichen.
„So ist es“, gab He trocken zur Antwort. Arr fuhr sichtlich bestürzt fort: “Und Pilar wird keine Gehirndaten von dir empfangen. Wie stellst du dir das denn vor?“
Pilars ununterbrochener Überwachung der Hirnströme war in den Köpfen der jungen Männer als Primat tief verankert. Sie praktizierten die Doppelpräsenz wie in den Jahren ihrer frühen Jugend, allerdings ohne regelmäßigen Ortswechsel. Die Ergebnisse, die Pilar aus der Langzeitbeobachtung der Hirnströme vom 3. bis 15. Lebensjahr ihrer Klonzwillinge gewonnen hatte, hatte sie bereits vor Jahren veröffentlicht. Damit fand sie starke wissenschaftliche Resonanz und fühlte sich ermutigt, die Arbeiten mit den Jungen fortzusetzen. Sie war mit ihren Adoptivsöhnen übereingekommen, ihre Studie auch während der Adoleszenzphase fortzuführen, je länger desto besser.

Wie Pilar es mit der Fernbeobachtung halten würde, wenn He mit einem völlig fremden Headset am vierwöchigen Inkalauf teilnahm, war ein ungeklärtes Problem. Denn Pilar hatte die Hirnströme der Klone lückenlos von frühester Kindheit an aufgezeichnet. Sollten jetzt ihre Studien abrupt und ungeplant unterbrochen oder gar beendet werden?
Die gesammelten Messwerte ihrer Langzeitstudie waren aus  wissenschaftlicher Sicht von höchstem Wert. Zahlreiche kompetente Neurologen griffen auf sie zurück, um ihre Thesen damit zu begründen. Sie waren  praktisch unangreifbar.
In Form von filigranen, ständig pulsierenden Strukturmustern hatte sie die Entwicklung der Jungengehirne vollständig bis ins gegenwärtige Erwachsenenalter erfasst. Riesige Datenbestände hatten sich aufgehäuft. Sie erlaubten ihr, in einzigartiger Weise plötzliche körperliche oder seelische Veränderungen bei den Jungen in den Mustern der Gehirnströme in Echtzeit, verlangsamt in Slow Motion oder beschleunigt im Zeitraffer nachzuvollziehen. Sie hatte die Bedeutung dessen, was sich den Schädeln entlocken ließ, angemessen zu gewichten und systematisch zu interpretieren.
Arr und He wussten, dass Pilar zu jeder ihrer kindlichen und jugendlichen Gemütsbewegung, jeder körperlichen Aktivität Serien von vielfarbigen Fransenbildern der Gehirnstrommuster erfasst hatte. Daraus konnte sie nicht nur wichtige Informationen über ihren Gesundheitszustand ablesen. Sondern sie gewann auch Einblick in körperliche und seelische Vorgänge, bis hin zu sexuellen Aktivitäten, Schwankungen des Selbstwertgefühls, Aggressivität, moralische Eigenbeurteilung und soziale Selbstbewertung der Zöglinge. Nur Pilars vorsichtigem Umgang mit diesen Informationen war zu danken, dass das Vertrauensverhältnis der Jungen zu ihr darunter nicht litt. Denn Pilars Grundsatz war, niemals ihre auf diesem Weg gewonnenen Erkenntnisse über innere Vorgänge ihrer Probanden zum Anlass eines Gesprächs, einer Zur Rede Stellung oder gar einer erzieherischen Maßnahme zu nehmen. Stattdessen ließ Pilar die Jungen selbst von Zeit zu Zeit einen Blick auf das von ihren Kopfaktivitäten verursachte Feuerwerk, auf einem Bildschirm sichtbar gemacht, werfen. Sie erklärte ihnen dazu: Da warst du wütend. Da hattest du dich gefreut. Da hattest du Fieber. Da hattest du einen Orgasmus. Da warst du zusammen mit deinem Freund. Und so fort.  Schon vor dem Beginn der Pubertät erlaubte sie ihnen diese Einsicht.
Zunächst waren sie neugierig auf das Geprassel der Nervenzellen in ihren Gehirnen, das ihre höchst eigenen Erlebnissen und Gefühle auslösten und das sie nun auf einem Bildschirm beobachten konnten. Mit der Zeit aber schämten sie sich, gerade in ihrem intimsten Leben so durchschaubar zu sein.
Doch Pilar bemühte sich, die Jungen zu besänftigen. Sie beteuerte, dass ihre Privatsphäre nach außen völlig abgeschottet bliebe. Vor allem versprach sie ihren Söhnen, die Informationen niemals zu ihrem Nachteil zu verwenden. Vielmehr versprach sie ihnen, nach Abschluss der Langzeitstudie ihnen die volle Verfügung über das gewonnene Material zu übertragen. Sie behielt sich nur die wissenschaftliche Auswertung der vorsorglich anonymisierten Daten vor. Die tiefen Persönlichkeitseinblicke lösten bei den jungen Männern Nachdenklichkeit aus. Sie diskutierten heftig darüber und vor allem fragten sie sich: Wann hatte die Detailaufzeichnung ihrer Lebensprozesse ein Ende? Darüber sprachen die fünf Brüder, die beiden Zwillingspaare und Mumo, häufig miteinander, ohne sich bis jetzt auf einen Endtermin der Gehirnstromerfassung zu einigen. Weil er niemals Zweifel an der Integrität seiner leiblichen Erzeugerin aufkommen ließ, war es meistens Mumo, der sich voll hinter Pilar stellte und für die Fortführung der Messungen plädierte. Die anderen wollten möglichst bald damit Schluss machen. Dennoch beabsichtigte keiner der Jungen, Pilars Forschungen zu gefährden. Aber, wie Arr es ausdrückte, buchstäblich bei jedem Furz die Protokollierungswünsche ihrer ambitionierten Mutter zu berücksichtigen, und zwar noch bevor der Schließmuskel die Abgase entweichen ließ, das schien ihnen auf Dauer zu viel verlangt, vor allem in schlechten Gemütslagen. Den jungen Männern wäre es dennoch als Verrat vorgekommen, Pilar die Daten von Hes Hochleistungsanstrengungen während des Inka-Pfad-Laufs vorzuenthalten.  
Die Aufzeichnung seines Gehirnlebens vier Wochen lang zu unterbrechen, war dabei nur das eine. Vielmehr erschien He bedenklich, dass die Gehirnprotokollierung gerade dann aussetzen sollte, wenn der Inhalt für ihn selbst besonders interessant wurde. Die bevorstehende außergewöhnliche sportliche Anstrengung bewirkte voraussichtlich einschneidende Änderungen in Hes Selbsterfahrung und Persönlichkeitsentwicklung. Die wollte er dokumentiert sehen. Diese Prozesse neuronengenau festzuhalten, war für die Klone, insbesondere für ArrHe mindestens so interessant wie Filmaufzeichnungen der Bewegungsabläufe während des Wettkampfs. Daraus konnte er lernen und Vebesserungen ableiten. Aufregend war, die Erfahrung von Sieg oder Niederlage anhand der Nervenströme im Gehirn des Kämpfers exakt zu verfolgen.

Pilar behandelte in ihrer Studie unter anderem die grundlegende Frage, wie das menschliche Gehirn genetisch vorbestimmter Charaktermerkmale in Alltagsverhalten umsetzte. Sie beeindruckte die Wissenschaftswelt durch Gehirnstromaufzeichnungen besonders hervorstechender Ereignisse in der Biografie der herangewachsenen Klonsöhne. Entscheidende Momente in der Persönlichkeitsentwicklung der Jungen waren gewissermaßen die Highlights der Langzeitstudie.
Das war den Brüdern bewusst. Und mit reiferem Alter nahm ihr Interesse an dieser Art, ihre Lebenserfahrung zu dokumentieren, zu. Ihr gelebtes Leben wurde allerdings in einer biologischen Bilderschrift aufgezeichnet, die nur von Hirnspezialisten gelesen, verstanden und übersetzt werden konnte. Auch wenn sie selbst diese Zeichen nicht zu entziffern vermochten, jetzt in den Wochen des Wettkampfes auf ihre Erfassung zu verzichten, empfanden sie als herben Verlust.
Der Konflikt war offensichtlich: Einerseits konnte die Gehirnstromanalyse He helfen, brisante Erfahrungen beim Extremsport zu erschließen. Andererseits waren eigenmächtige elektronische Erhebungen während des Wettkampfs verboten. Wie würde Pilar damit umgehen?
Wenn sie während des Laufs wie gewohnt die Messwerte von Hes Kopf erhielt, dann war sie sicherlich dafür, dass er teilnahm. Falls ihr aber die gewohnte Gehirndatenübermittlung verwehrt wurde, versuchte Pilar dann Hes Teilnahme am Sportevent in Südamerika zu verhindern? Möglicherweise ließe sie eine vierwöchige Unterbrechung ihrer Aufzeichnungen nicht zu.
Arr schlug vor, Lu und Ka in die Diskussion einzubeziehen.
„Mumo lassen wir aber da raus“, sagte He, „sonst könnten wir Pilar auch direkt fragen. Mumo ordnet sich den Wünschen seiner Mutter immer unter, selbst dann, wenn sie gar keinen Sinn machen.“ LuKa hatten auch keine Idee. Sie schlugen nur hilfsweise eine technische Lösung vor. Danach sollte He, solange er während des Laufs keinen Kontakt mit Arr hatte, die Messwerte der Gehirnströme parallel zur offiziellen Wettkampfkommunikation erfassen und zwischenspeichern. Das Problem war aber, dass He zu diesem Zweck natürlich ihre altgewohnte Kappe mit den elektronischen Gehirnsensoren tragen musste. Die fasste die Wettkampfleitung aber voraussichtlich als Mittel zur künstlichen Leistungssteigerung auf. Nachdem die chemischen Dopingmethoden vor Jahrzehnten erfolgreich aus der Sportwelt verdrängt worden waren, erschienen in jüngerer Zeit vermehrt elektromagnetische Stimulanzien auf dem Markt, die auf das Schmerzzentrum dämpfend und auf die Steuerung der Motorik anregend wirkten. Mit derartigen Hirnkitzlern hatte die Hirnforschung inzwischen erstaunliche Möglichkeiten der Leistungssteigerung eröffnet. Darum untersagte die Kampfleitung, während der offiziellen Sportwettkämpfe alle Sensor-Kappen, die nicht offiziell genehmigte waren.
Nun war guter Rat teuer: Verzicht auf Hes Gehirnstromaufzeichnung oder Verzicht auf die Teilnahme am Lauf. Keiner der vier Klone wollte seiner Ziehmutter in den Rücken fallen, aber alle waren der Auffassung, dass ihr Leben wegen Pilars unersättlichem Datenhunger nicht weiterhin eingeschränkt werden durfte. Die Klone kamen zu keinem eindeutigen Ergebnis. Um dem Grübeln an den vier Enden der Funkverbindung ihrer interkontinentalen Konferenzschaltung ein Ende zu setzen, sagte He: „O.k., ich werde einfach mal mit ihr sprechen. Vielleicht findet sich auf diese Weise eine Lösung.“


Gehirnspezialistin in der Sportmedizin


Sobald He bei der häufig in fremden Zeitzonen beschäftigten Wissenschaftlerin einen geeigneten Zeitpunkt zum Gespräch fand, meldete er sich bei Pilar. Sie spürte sofort, dass es ihrem asiatischen Adoptivsohn sehr ernst war und ließ ihn ausgiebig zu Wort kommen. Sie verstand, dass sein sportliches Engagement von großer Bedeutung für ihn war. Und ihr war bewusst, dass der Schwulensport mit dem Aufbau des Inka-Laufs eine wichtige Popularitätshürde nehmen konnte. Auch den Konflikt mit der Wettkampfleitung wegen Sensor-Kappen sah sie deutlich.
Aber dann hatte sie eine Idee, die He überraschte: „Wie wäre es“, meinte sie, „wenn ich nicht nur bei dir, sondern bei allen Teilnehmern des Wettlaufs Live-Messungen mithilfe derselben Technologie durchführte?“ He sah auf dem Kontaktmonitor ihr verschmitztes Lächeln, das sie zeigte, wenn sie mit einem überzeugenden Argument auftrumpfte.
„Ja, aber kann denn damit ein offizieller sportmedizinischer Betreuer etwas anfangen?“, wandte He vorsichtig ein.
„Ja, natürlich“, erwiderte sie immer noch lächelnd, „nämlich dann, wenn ich selbst die offizielle sportmedizinische Betreuerin bin.“
He war perplex: „Wie? Du willst die… aber du…“ He kam ins Stottern. Pilar unterbrach ihn belustigt: „He, du hast mir doch eben erklärt, dass diese Wettkämpfe noch im Aufbau sind und dass hier eine Sportart ganz neuer Dimension mit ganz neuen Herausforderungen geschaffen wird. Da ist es doch angebracht, dementsprechend die nötige medizinische Kontrolle auszubauen und zum Schutz der Athleten nicht nur ihr Herz-Lungen-Blutkreislauf-System zu überwachen, sondern auch die Hirnaktivitäten in Verbindung mit der Hormonproduktion und der Steuerung des Bewegungsapparates zu beobachten.“
He war sprachlos. Er versuchte sich Pilar im medizinischen Einsatz beim Wettkampf vorzustellen.
Würde sie sich mit Helmut Dinderich, dem Begleitarzt der Schwulensportgruppe von der Siegener Universität vertragen?
Pilar war von Natur aus eigensinnig und unnachgiebig, vor allem in Fragen ihres Fachgebiets. Helmut dagegen war alles andere als eine Kämpfernatur und suchte schnell den Kompromiss. Vielleicht ergänzten sie sich ja.
Genau besehen stellte die wissenschaftliche Unterstützung durch Dr. Pilar Fengenberg, Spezialistin am Frankfurter Hirnforschungsinstitut, eine Aufwertung des gesamten sportlichen Vorhabens dar, mindestens aber des deutschen Teams aus Siegen.

Pilar beendete die Nachdenkpause, die durch Hes Schweigen eingetreten war: „Wenn du willst, mach doch einen Termin mit euren Begleitärzten aus. Dann werden wir erfahren, was sie über unseren Vorschlag der kontinuierlichen Gehirnstrommessung aller Teilnehmer während des Laufs denken?“ Das war ein guter Vorschlag. He erklärte sich einverstanden, sobald wie möglich mit Helmut Dinderich Kontakt aufzunehmen.
Als He bei nächster Gelegenheit Helmut mit Pilars Vorschlag konfrontierte, reagierte der Arzt wie man es sich hätte ausdenken können. Er lief leicht rot an. Ein Schuss Eifersucht trieb ihm das Blut in den Kopf: Versuchte etwa jemand sich an seine Jungs heranzumachen und auf unerlaubtem Weg tiefer in sie hineinzuschauen? Doch sein Schutzverhalten verflüchtigte sich schnell wieder, als er in die dunklen Pupillen schräg ausgerichteter asiatischer Sehschlitze schaute, mit denen He ihn erwartungsvoll ansah. Vom sportwissenschaftlichen Standpunkt aus war die Mitarbeit einer renommierten Hirnspezialistin zweifellos ein Gewinn. Und gerade in der noch immer mit Verachtung bedachten Nische des Schwulensports war die Betonung höchster wissenschaftlicher Standards unverzichtbar beim Umgang mit sportlichen Leistungen. Helmut zeigte sich mächtig interessiert, gab aber zu bedenken: „Gehirnstrommessungen sind Eingriffe in die Persönlichkeit der Läufer. Die bedürfen auf jeden Fall der Zustimmung jedes Teilnehmers. Außerdem muss das Messverfahren von der Wettkampfleitung geprüft und anerkannt werden.“ He trat unzufrieden von einem Bein aufs andere: „Was bedeutet das? Was können wir tun, um die Sportmedizin mit der Hirnforschung für eine großartige Wettkampfveranstaltung zu verheiraten?“
Die Ironie der Situation lag darin, dass He, während er sprach, wie immer seine unscheinbare Messkappe, von seinem schwarzen Haar verdeckt, auf dem Kopf trug. Die übermittelte live die Abbilder seiner feuernden Gehirnzellen an Pilars Empfangsgeräte. Am liebsten hätte er dem Arzt die Kappe einfach übergestülpt und ihn gefragt: „Was in aller Welt ist denn daran so schwierig?“ Aber er hielt sich zurück und schlug stattdessen vor: „Wir können ja das Verfahren einmal demonstrieren, damit und du und die anderen Teilnehmer euch selbst ein Bild machen könnt, wozu das nützt und wie das läuft.“ Eben erst hatte Helmut überschwängliches Interesse bekundet. Jetzt konnte er den Vorschlag nicht ablehnen. He rief Pilar gleich telefonisch in eine Konferenzschaltung. Mit dem Ergebnis, dass die Drei auf der Stelle einen Termin in der nächsten Woche mit Dinderich und einigen Vertretern der Siegener Athleten vereinbarten.

Wie abgesprochen führte Pilar den Siegener Athleten und Medizinern ihre Technik zur Messung von Gehirnaktivitäten in deren Sporthalle vor.
Es ging darum, Auswirkungen von sportlichen Anstrengungen der verschiedensten Art auf die Steuerung im Kopf sichtbar zu machen. Pilar hatte ihre Geräte und einen großen Bildschirm aufstellen lassen. Mannschaftsarzt Dr. Dinderich empfing sie ehrfurchtsvoll. Zum ersten Mal erlebte Pilar He, ihren prachtvollen, asiatisch geprägten Zweimetersohn, im Kreise seiner Kommilitonen. Sie schaute sich die Männer reihum an. Auf Leistenhöhe zeichneten sich bei manchem der Zwanzig- bis Dreißigjährigen in leichtem Sportdress prächtige Gestänge ab.
Einige der Athleten waren unmittelbar von ihren Sportübungen herübergekommen, wischten sich mit einem Handtuch die erhitzten Gesichter ab und atmeten noch schwer. Eine Duftwelle frischen Männerschweißes erreichte Pilar. Sie hob unwillkürlich den Kopf, streckte sich und versandte Willkommenssignale durch ihre Mimik. Die wohlgerundeten Gesäßbacken der Sportler zeugten von fettarmer, straffer Muskulatur. Die Männer nickten Pilar wohlwollend zu. Zwei, drei der Männer begrüßten sich gegenseitig mit Wangenkuss: Schwule unter sich, dachte Pilar.
He strahlte Pilar an. Er versuchte seine Nervosität zu überspielen. Es war so ungewöhnlich, dass ihn seine Mutter mit Gleichaltrigen unbeschwert zusammen sah. Dass sie alle schwul waren, darüber musste man sich erst klar werden. Einer von ihnen sah mit seinen duschnassen Kopf zum Anbeißen aus, wie er sich, den aufmerksamem Blick auf Pilar gerichtet, mit seinen sportlichen Schenkeln zwischen zwei Kollegen auf die Wartebank zwängte. Aufleuchtende Augen, blitzende Zähne, da ein funkelnder Ohrsticker oder Brustwarzenring, dezent tätowierte, gepiercte Körper. Beherrschtes, lässiges Auftreten, zufriedene Erschöpfung, impulsive Aufmerksamkeit, schüttelndes Lachen, klatschende Schenkelschläge, springende Kehlköpfe, lässiges Zurechtzupfen der Weichteile, haarige Unterschenkel, stoppelbärtige Kinnladen, kräftige Haarschöpfe und ölglänzende Glatzköpfe. Das wirkte auf Pilar anregend trotz oder gerade wegen ihres fortgeschrittenen Alters. Es wirkte auf alle hier Anwesenden. Alle trugen ein Bild vom schönen, begehrenswerten Mann in sich, das hier unter den Anwesenden seine lebendige Entsprechung fand.
Pilar richtete den Blick wieder auf He, ihren intelligenten, wohlgestalteten Sohn. Ihr war er der blühende Beweis, dass sich ihr Konzept familienneutraler Kinderaufzucht bewährt hatte. War er den anderen überlegen? War er mit Recht jener erhofften Elite zuzurechnen, die Ino im Sinn hatte, als er vor 25 Jahren das Klon-Projekt startete? Sie verglich He mit den anderen hier anwesenden gesunden vitalen jungen Männern, die neue Herausforderungen für ihr Leben suchten. Sie wusste, dass He sich seiner Besonderheit bewusst war, nicht nur wegen seiner Homosexualität - die anderen hier waren ja wohl auch alle schwul - sondern dass er nicht von Vater und Mutter gezeugt war. Er musste sich fühlen, nicht von dieser Welt zu sein, dachte Pilar. Sie nahm sich vor, dieses Thema mit ihm eingehend zu besprechen, wenn sich eine Gelegenheit bot.

Pilars Präsentationen liefen erfolgreich. Die Sportler ließen sich begeistert im Test Dioden anlegen, um am Bildschirm selbst zu verfolgen, wie die Leistungssteigerung ihrer Muskeln sich im Gehirn darstellt. Sie erkannten den Vorteil, Überforderungen des Körpers vorzeitig anhand von Gehirnreaktionen festzustellen. Pilar machte deutlich, dass durch die Beobachtung des vegetativen Nervensystems Körperreaktionen wie Schüttelfrost, Schweißausbrüche und Darm-Magen-Versagen präzise vorausgesagt und Zusammenbrüche verhindert werden konnten.
Ihr war es auch möglich, die Gestimmtheit eines Probanden zu erkennen, also zum Beispiel, wie hoch sein Motivationsgrad war und ob Aggression, Übermut, Verzweiflung oder Routine ihn antrieb. Für die Hirnstrombeobachtung sprach, dass die Ärzte damit am Gehirn frühzeitig Versorgungsmängel erkennen konnten, aber auch, ob dem Körper chemische Dopingmittel zugeführt wurden.
Die Runde akzeptierte grundsätzlich Pilars gehirnmedizinischen Beitrag zur Athletenbetreuung. Ungeklärt blieb jedoch, wie weit ihre Gehirnstromanalyse gehen durfte, ohne Persönlichkeitsrechte der Teilnehmer zu verletzen.
Das warf auch die Frage nach der Aufzeichnung, der Aufbewahrung und der Verfügungsrechte über die gewonnenen Daten auf. Doch darüber, beschlossen sie, sollte die Wettkampfleitung oder der Sportverband entscheiden.
Pilar war fürs Erste zufrieden: Aller Voraussicht nach würde sie mit ihren Messgeräten beim Sport-Event in Südamerika dabei sein können. Alles sprach dafür, dass ihr die teilnehmenden Athleten hervorragendes Vergleichsmaterial lieferten. Damit konnte sie ihre Studien nach einer Zeit wissenschaftlicher Flaute wieder einen Schritt nach vorne bringen. Selbstverständlich würde sie die Ergebnisse anonymisieren und somit wegen Persönlichkeitsrechtsverletzungen keine Klagen zu befürchten haben.

Die Dinge entwickelten sich, wie He es sich gewünscht hatte. Er konnte am historischen Extremlauf teilnehmen, ohne auf die Aufzeichnungen seiner Gehirnaktivitäten während des Wettkampfeinsatzes zu verzichten. Allerdings war ihm während der Austragungszeit des Inka-Laufs die seit Kindheitstagen gewohnte ständige Verbindung zu seinem Zwillingsbruder Arr verwehrt. Nach den Statuten der Wettkampforganisation durfte ohne Genehmigung nichts und niemand Funkkontakt mit den Läufern haben. Aber die Hirnstromaufzeichnung hatte die Leitung des Projekts für gut geheißen. Sie erkannte, dass sich die Wettkämpfer dadurch erheblich besser als bisher medizinisch beobachten ließen. Sie erklärte sich sogar bereit, die besonderen Kopfgeräte den Wettläufern bereitzustellen. Die Mitarbeit der Hirnspezialistin Dr. Fengenberg im Ärzteteam begrüßten die Sportmanager außerordentlich.
Schwule Chaskis

Das deutsche Inka-Lauf-Team kam zur Vorbesprechung im Sportzentrum der Siegener Uni zusammen. Jeder Teilnehmer sollte ein klares Bild darüber bekommen, was auf ihn beim Extremlauf in Südamerika zukommen würde.
Con, der organisatorische Leiter der Siegener Gruppe, zeigte das typische Lächeln des Wissenden, dem es Vergnügen bereitet, seine unwissenden Freunde aufzuklären.
„Es wird ein gigantischer Lauf, liebe Schwestern. Alles in allem werden wir 5120 Km von der Atakamawüste in Chile bis nach Quito in Ecuador auf unseren eigenen Füßen zurücklegen.“
„In wie viel Tagen?“, unterbrach ihn Ed.
„In zwanzig. Aber jetzt unterbrich mich nicht und lass mich euch erst einmal alles erklären. Die gesamte Strecke soll und wird keiner alleine bewältigen, sondern es ist die Strecke des gesamten Teams. Unser Team besteht aus zwanzig Läufern.“
„So viele sind wir doch gar nicht!“ Ed konnte sich wieder nicht zurückhalten.
„Über den Aufbau des Teams werden wir später sprechen, Ed. Jetzt lass mich doch in Gottes Namen erst einmal alles der Reihe nach abhandeln.Also, diese zwanzig Läufer sind wie unsere historischen Vorbilder aus der Inka-Zeit, die Chaskis, rund um die Uhr im Einsatz, Tag und Nacht.“

„Wie man im Laufen schlafen soll, musst du uns aber erst noch erklären“, schmollte Ed halblaut vor sich hin. Einige mussten lachen.
„Die Chaskis, die Boten des Inka-Königs, waren übers ganze Land verteilt an ihnen jeweils zugewiesenen Streckenabschnitten in kleinen Stationshäuschen untergebracht. Dort mussten sie auf Posten sein, wahrscheinlich immer in kleinen Gruppen zu dritt oder zu viert. Doch über die Personenstärke der Posten gibt es leider keine eindeutigen Belege.
Wenn ein Chaski sich dem Posten näherte, um eine Nachricht oder ein Transportgut weiterzugeben, blies er ein Horn. Damit alarmierte er die wartende Ablösung. Einer von der Postenbesatzung übernahm die zu befördernden Gegenstände, Meldungen oder Waren für oder im Auftrag des Königs, und lief damit sofort weiter zum nächsten Posten.  Dort übergab er sie an den Nächsten, der wieder an den Nächsten und so weiter und so weiter, oft über tausende von Kilometern hinweg. Auf diese Weise war das gesamte Reich, das  von den heutigen Andenstaaten Ecuador, Peru, Bolivien, Chile und Argentinien überdeckt wird, mit einem Netzwerk von Laufstraßen und Staffeln überzogen, auf dem in erstaunlich kurzer Zeit Dinge und Nachrichten von einem Ende zum anderen befördert wurden. Es heißt, der König ließ sich von den Läufern frischen Fisch von der Küste nach Cusco bringen.“
Mak hatte Cons Erklärungen aufmerksam zugehört. Nachdenklich fragte er: „Lief denn der, der gerade seine Sachen abgeliefert hatte, dann wieder zurück oder wartete der auf einen Gegenauftrag, durch den er dann wieder zum Ausgangsort zurückkehrte?“
„Ich weiß es nicht. Darüber, wie sich die Chaskis bis vor fünfhundert Jahren organisiert haben, gibt es bis heute leider keine klaren Auskünfte. Man weiß ja nicht einmal, wie viele es überhaupt gewesen sind, bzw. wie viele über das Land verteilt im Einsatz waren. Wahrscheinlich waren es über tausend, vielleicht mehr als zweitausend.“
„Und die waren alle schwul?“, kam die skeptische Frage von Rob. Der versuchte an die in diesen Tagen heftig geführte Diskussion über schwule Tradition im Sport anzuschließen. Es ging darum, mit welcher Berechtigung sich die Schwulensportgruppen für den Inka-Lauf engagierten. Con sah Rob flehentlich an: „Können wir diese Frage bitte auf später verschieben. Ich möchte euch einfach erst einmal den Aufbau der Teams, die Wettkampfregeln und die Organisation erklären. Oder ist das uninteressant? Wisst ihr schon alles?“
„Nein, nein. Mach nur weiter“, reagierten einige unwillig.

Con fuhr mit seinem Vortrag fort: „Also man fragte sich: Wie haben die Chaskis es geschafft, ohne Pferde und ohne Räder über Tausende von Kilometern Botendienste in nur wenigen Tagen zu erledigen? Sie liefen Streckenabschnitte in der Größe von sechs bis mehr als dreißig Kilometern. Wir nehmen an, von durchschnittlich 16 Km. Das ist jedenfalls der Richtwert, den wir für unseren bevorstehenden großen Staffellauf ermittelt haben. Die Chaskis ließen ihre Fracht nicht ruhen, d.h. die Staffelanschlüsse funktionierten unterbrechungsfrei rund um die Uhr. Auf diese Weise legte die zu überbringende Fracht in vier Tagen ca. 1000 Km zurück. Und so wird es auch bei unserem Lauf sein.“
Die Teamteilnehmer hörten aufmerksam zu. „Wenn man die Gesamtstrecke von 5120 Km durch diesen Durchschnittswert von 16 Km teilt, kommt man auf 320 Laufabschnitte. Das ist eine Menge, ich weiß. Die Anzahl der Teammitglieder setzen wir mit 16 an, das ist jedenfalls die Zahl der Kernmitglieder. Von denen würde jeder 20 Staffelabschnitte laufen. Ich sage ‚würde’, weil das Gesamtteam noch vier zusätzliche Läufer umfasst, um Ersatzläufer parat zu haben. Wie gesagt: Die Dauer des Gesamtlaufs ist auf den Mittelwert von 20 Tage angesetzt. Ein gutes Team schafft das in kürzerer Zeit, ein schlechtes in längerer, ist klar. Also könnte man daraus folgern, dass alle 16 Kernläufer täglich einen der 320 Abschnitte hinter sich bringen müssen. Das halten wir aber nicht für gut. Täglich sechs bis dreißig Kilometer zu laufen, verschleißt die Kräfte auf Dauer mehr als jeden zweiten Tag das Doppelte hinter sich zu bringen, weil sich der Körper in diesem Rhythmus besser regeneriert. Also haben wir vorgeschlagen, jedem Läufer alle zwei Tage zwei Einsätze abzuverlangen, damit er am Folgetag freigestellt ist und sich erholen oder aber Transportdienste leisten kann. Die Transportdienste sind notwendig, weil im Unterschied zu den Chaskis unsere Staffelläufer nicht ihren Posten behalten, sondern mit dem Auto für Anschlussläufe an die vorausliegenden Übergabepunkte gebracht werden. Dort empfangen sie den Läufer des vorausgegangenen Abschnitts, der ein Bündel Knotenschnüren, das Trägermedium der zu überbringenden Botschaft, übergibt.“
„Die Krieger werden zum Kampf getragen“ amüsierte sich Dit.
„Wie?“, lachte Rolf, „Soll das heißen, als Staffelläufer renne ich dem Landrover hinterher, der meinen Chaski-Kamerad zum Treffpunkt befördert, wo ich ihm den Staffelstab übergeben soll?“ Spöttisch fuhr er fort: „Dann muss ich ja eine Staubmaske tragen, zum Schutz gegen die vom Fahrzeug aufgeworfenen Wirbel“. Belustigt schaute er sich um.
 „Na, so dicht auf dicht werdet ihr ja nicht hinter den Transportfahrzeugen unterwegs sein“, beruhigte ihn Con.
    
„Wie sollen wir es auch anders machen?“, fuhr Con fort, „erstens müssen wir die, die gerade gelaufen sind, mit Fahrzeugen abholen, zweitens müssen die Läufer pünktlich an ihre jeweilige Startposition gelangen, ohne sich vorher schon zu verausgaben. Und drittens müssen diejenigen, die gerade nicht laufen, beschäftigt werden, damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen.“ Con schaute verschmitzt in die Runde und setzte ein „Alles klar?“ hinterher.
„Nö“, kam prompt die Antwort von Jenno, „woher weiß ich denn, wenn ich loshechele, wo ich hinlaufen muss, bzw. wo die Staffelübergabe ist? Muss ich deswegen tatsächlich dem Fahrzeug hinterherlaufen, damit ich meinen Anschlussläufer nicht verpasse? Das wäre ja Scheiße.“ Jenno rollte bedenklich die Augen.
Con zeigte am Groß-Bildschirm eine Karte der historischen Inka-Pfade. Rote Flecken schienen darüber verteilt zu sein. Dann zoomte er in einzelne Teilabschnitte des Bildes. Dadurch entpuppten sich die roten Flecken als eine Schnur von zahlreichen roten Punkten. „Das sind die 320 Übergabestellen entlang der Gesamtstrecke. Die sind geografisch eindeutig festgelegt. Die Liste der Positionen liegt den Kampfrichtern vor.“
Ron meldete sich diesmal artig per Handzeichen:„Wer hat die festgelegt?“
„Die haben Den und ich erarbeitet und dem Wettkampfbüro gemeldet. Entscheidungsgrundlage waren die Satellitenbilder und die Filme von der ferngelenkten Drohnenkamera, die wir zur Erfassung von schwierigem Gelände eingesetzt haben. Vor vier Wochen waren wir dort und haben alles vorbereitet. Allein die Kameraeinsätze vor Ort haben uns zwei Wochen Zeit gekostet. Hinzu kam noch die tagelange Auswertung am Bildschirm hier im Institut. Es war eine Heidenarbeit, kann ich euch sagen.“
„Kann man denn nicht einfach den alten Inkapfaden entlanglaufen? Habt ihr die Strecke nicht mit Markierungen versehen?“, wollte Ron wissen.
„Für den größten Teil der Gesamtstrecke ist das möglich. Und wir haben das natürlich dort auch so vorbereitet. Aber es gibt Abschnitte, bei denen lässt sich der Verlauf des alten Pfades nicht mehr eindeutig feststellen. Ja, es ist nicht einmal mehr etwas von einem Pfad zu erkennen. Da geht es über Stock und Stein“, er blendete einige Fotos ein, die unwegsames Gelände mit grobem Geröll und großen Steinbrocken zeigten, über die ein Mensch mühselig hinwegstieg.
    
„Durch so ein Gelände müssen wir durch?“, fragte Ron entgeistert.
„Ja, solche schwierigen Abschnitte gibt es. Dabei ist erschwerend, dass der Läufer sich selbst orientieren muss. Ihr habt ein Satellitentelefon und ein GPS-Gerät bei euch und werdet von einem ferngesteuerten Beobachtungsballon begleitet. In solchem Gelände gibt es keine metergenaue Festlegung des Parcours. Ihr müsst in diesem Fall selbst vor Ort herausfinden, wo ihr am besten vorankommt. Die Bewältigung solcher Abschnitte wird von der Jury in besonderer Weise bewertet. Jedes Team hat die Freiheit, derartige Herausforderungen nach eigenen Vorstellungen anzugehen. Damit ein Läufer durch Unwegsamkeiten nicht überfordert wird, haben wir in solchen Fällen die Staffelabschnitte entsprechend verkürzt. Einen Kilometer Bergstrecke über Schottersteine auf allen Vieren hoch zu klettern, ist ja wohl anstrengender, als fünf Kilometer auf fester ebener Straße zu laufen. Der Läufer kann den Weg seinem Bedürfnis anpassen, wenn es darum geht, einen Berg entweder steil geradeaus zu erklimmen oder ihn in Serpentinen langsam ansteigend zu bewältigen. So kann es kommen, dass zwei verschiedene Teams die Strecken ganz unterschiedlich angehen und ihre konkurrierenden Läufer auf dem Abschnitt gar nicht zu Gesicht bekommen.“
Die letzten Sätze hatten die Zuhörer beeindruckt. Jeder versuchte, sich in solch eine Aufgabe hineinzuversetzen. Dann brach Ron wieder das Schweigen: „Und was ist mit dem Wetter? Wenn da ein Sandsturm aufkommt oder ein Gewitter losbricht, was ist dann?“
„Tja, was ist dann?“ echote Con lapidar und fuhr mit einem schelmischen Grinsen fort: „Ihr habt jetzt noch Gelegenheit, mit euren Versicherungen Schön-Wetter-Verträge auszuhandeln.“ Ron merkte, dass er auf den Arm genommen wurde, und schwieg mit säuerlicher Miene.
Con wurde wieder ernst: „Nein, Spaß beiseite: Dagegen können wir zunächst nichts tun. Jeder muss sich selbst weitestgehend schützen. Wenn euch etwas zustößt, wird das Team über den Beobachtungsballon gewarnt. Falls ihr nicht selbst bereits per Funk um Hilfe gerufen habt. Was die Beurteilung durch das Wettkampfgericht angeht: Für Schlechtwetter gibt es ebenso zusätzliche Leistungspunkte wie für unwegsames Gelände. Wie stark die allerdings ins Gewicht fallen, kann ich euch heute noch nicht sagen.
Unser zwanzigköpfiges Team wird in fünf Viererteams aufgeteilt. Vier Teilteams mit je vier Staffelmitgliedern, die das Kernteam ausmachen. Hinzu kommen vier Ersatzläufer, die für jeden der vier mal vier Kernteammitglieder einspringen können, aber in Bereitschaft verbleiben, wenn kein Ersatz erforderlich ist.“
He hatte mit Spannung an der Sitzung teilgenommen und Cons Erläuterungen aufmerksam schweigend verfolgt.
Es brauchte noch Wochen, bis die deutschen Sportler des Schwulenverbands sich auf den großen Lauf mental und physisch ausreichend vorbereitet fühlten. Aber irgendwann war es dann so weit. Der Transport der Wettkampfteams samt ihrer technischen und medizinischen Begleiter nach Südchile erfolgte mehr oder weniger problemlos.