Das Küken des Lar Nougai
Für Ino war es nicht schwer, vorweg Auskünfte über die Wissenschaftlerpersönlichkeit seines Gesprächspartners Lar Nougais zu bekommen. Das Netz strotzte nur so von Erfolgsdaten seiner Karriere. Da mochte manchem die Flut chinesischer Auszeichnungen suspekt erschienen sein, aber an der internationalen Anerkennung Lar Nougais wissenschaftlichen Leistungen bestand kein Zweifel.
Er war Naturwissenschaftler durch und durch, hatte seine ersten Meriten als Mathematiker verdient, war dann zur Biologie gewechselt und hatte sich in der theoretischen Biologie bei der Erforschung des Urbeginns irdischen Lebens einen Namen gemacht. Seine Arbeiten über die Bildung der ersten Lebewesen vor knapp vier Milliarden Jahren, also bereits nach dem ersten Fünftel der gesamten Bestehenszeit des Planeten Erde, führten zu biochemischen Experimenten, die zur Verblüffung der Wissenschaftsszene seine Resultate voll bestätigten. Aufgrund der ihm gezollten Anerkennung war er dann die Karriereleiter im Wissenschaftsmanagement fast gegen seinen Willen nach oben gefallen. Nun sah er seine Aufgabe nicht mehr in der aktiven Forschung, sondern in der Beurteilung von Wissenschaftsprojekten und ihrer Begutachtung bzw. Empfehlung für die staatliche Förderung.
Er bat Ino höflich, ihm in die Laborkatakomben des biologischen Instituts im Tempel des irdischen Friedens zu folgen und tat dabei sehr geheimnisvoll. Der geräumig breite Gang führte an Aquarien, Käfigen, Vitrinen, Voliere und Exotarien vorbei, als zeigten sie die lebenden Schätze eines Zoos. Trotz Lufttauscher roch es hier animalisch, das Licht fiel von der Decke herein, die abschnittsweise aus Glasziegeln bestand. Es war schwer auszumachen, ob es künstliches oder durchschimmerndes Sonnenlicht war. An der Tür einer der seitlich abzweigenden Arbeitsräume wurden sie von einer kleinen Gruppe junger Wissenschaftler empfangen, die Ino kurz vorgestellt wurden. Sie waren von einem Geschehen dermaßen in den Bann gezogen, dass sie Ino nur flüchtig Beachtung schenkten. Sie wandten sich einem riesigen, kindskopfgroßen Ei zu, das auf einem mit Fasern gepolsterten Boden unter einem Infrarotwärmestrahler lag. Das Ei war größer als das von einem Strauß, aber ebenfalls mit einer kalkhaltigen harten Schutzschicht versehen. Eierschalen eines Dinosauriereis?, schoss es Ino durch den Kopf, weil alle Welt von modernen Biologen seit langem die Umsetzung der Jurasic-Park-Fantasie aus dem vergangenen Jahrhundert erwartete. Doch ein Gelege der Beherrscher des Erdjurazeitalters hatte Ino sich anders, gummiartiger und echsengerechter vorgestellt. Das konnte es also nicht sein. Von allen Seiten waren Kameras auf das Ei gerichtet. Obwohl eine Glasscheibe die Beobachtergruppe von dem biologischen Objekt trennte, vermied Ino Fragen zu stellen, um nicht akustisch in die laufende Videoaufzeichnung einzugehen. Plötzlich begann etwas in dem Ei in Bewegung zu geraten. Risse sprangen über die Ei-Oberfläche, dann barst die harte Schicht und ein sich aufbäumendes Monster begann sich aus der Enge des Inneren zu befreien. Ein potthässliches federnverklebtes Etwas mit wulstigen, noch häutig verschlossenen Augen stemmte sich aus der Eierschalenruine und zeigte zuckend einen überproportinierten Schnabel, der oben vom Nashornvogel, unten vom Pelikan abzustammen schien und nun weit aufgerissen offenbar auf Nahrungszufuhr hoffte. Ein zischendes, quiekendes Geräusch war zu vernehmen.
„Sie haben gerade an dem Jahrhundertereignis der Geburt eines Dodos beigewohnt, der seit 300 Jahren ausgestorben aber mit Hilfe unseres DNA-Labors wieder zum Leben erweckt worden ist“, raunte Lar Nougai Ino ins Ohr.
Nun begann einer der jungen Wissenschaftler vorbereitetes Futter in den aufgerissenen Schlund des Riesenkückens zu stopfen. Ino konnte nicht erkennen, was es war. Der junge Tierpfleger, ein Verhaltensforscher, wich nicht mehr von dem fremdartigen Vogelkind. Er machte sogar selbst ein paar ähnliche Quietschlaute wie das Kücken. „Er will auf keinen Fall den Moment verpassen“, erklärte Lar Nougai seinem Besucher im Flüsterton, „wenn das Kleine zum ersten Mal die Augen öffnet. Er lässt sich durch den ersten Blickkontakt ins Gehirn des Neugeborenen in der Rolle des versorgenden Muttertiers einbrennen. Damit macht er sich das Schlüsselereignis zunutze, das die Natur beim frisch Geschlüpften so eingerichtet hat. Fortan dürfte er den Jungvogel nicht mehr los werden, denn durch die Erstbegegnungsprägung etabliert sich zwischen ihm und dem Tier eine Mutter-Kind-Bindung, die so lange währt, bis es ausgewachsen ist.“
Ino schaute ihn fragend an, so dass Nougai weiter erklärte: „Ja, das Baby schaut sich denjenigen, der da über ihm im Moment des Schlüpfens wacht, genau an, um ihn fortan nicht wieder aus den Augen zu lassen. Durch diese Prägung bildet sich für das Lebewesen die naturgegebene Erkenntnisbrücke von Innenwelt und Außenwelt. Bis zum Schlüpfen bereitet sich das Gehirn des Vogelembryos, ja sogar sein gesamtes Nervensystem, durch wochenlanges Wachstum im Innern des Eis auf eben diesen kritischen, überlebenswichtigen Moment vor. Es ist der Moment, in dem zum ersten Mal die Atmung, die sensorische Wahrnehmung und der Bewegungsapparat einsetzt und das Gehirn die Steuerung übernimmt. Das Tier startet den lebendigen Kontakt zur Außenwelt, wo ein Beschützer auf es wartet. Sein Kopforgan ist mit vorprogrammierten Verhaltensprogrammen vollgespickt. Es gibt ihm den notwendigen Anlauf für seine bevorstehende Selbsterhaltungskämpfe.“
Bei diesen Worten merkte Ino auf und sagte spontan: „Das ist es, was der Mensch beim Übergang von der vollversorgenden Erde in den autonomen Überlebenskampf im Weltraum benötigt: Eine seiner inneren Erwartungshaltung entsprechende Überlebenshilfe, die ihm im Weltraum wie eine Mutter ihrem Küken auf die Beine hilft. Denn nach dem Vollversorgungszustand auf der Erde beginnt er dort draußen für sein Leben selbst zu sorgen. Aber er findet Helfer, die ihn in seine neue Existenzform begleiten.“ halblaut fuhr er fort: „Mit anderen Worten, der Weltraummensch nimmt seine neue Existenzform fraglos an und kommt nicht auf die Idee, wieder in seine Herkunftswelt zurückzukehren.“ Dann wandte er sich seinem chinesischen Gesprächspartner zu: „Oder haben Sie einmal ein schlüpfendes Küken dabei beobachtet, wie es sich enttäuscht wieder in seine Eierschale zurückzuziehen versucht?“
Doch Lar Nougai ging darauf nicht ein. Stattdessen wechselte er t das Thema und nahm plötzlich Bezug auf das Gespräch, das Ino vor einer Woche mit dem Parteisekretär geführt hatte.
Natürlich erwartete Ino nicht, dass die Führung des Milliardenstaates sich unumwunden seinen kosmischen Plänen anschloss. Aber jetzt spürte Ino, dass es um etwas anderes ging.
Für Inos vorgeschlagene Strategie zur Besiedlungs des Sonnensystems Sympathie zu bekunden, dürfte Tamao Guan nicht schwergefallen sein. Vielmehr nutzte der Politiker den Gleichklang ihrer Interessenbekundungen ganz im eigenen Sinne. Mit einem Lächeln schob er ihrer sich anbahnenden Partnerschaft ein Anliegen unter, das sich im Nachhinein als sein eigentliches Interesse erwies. Ein Anliegen, das der überraschte Verhandlungspartner nicht ablehnen konnte, wenn er die Harmonie der Annäherung nicht stören und er selbst nicht als Spielverderber dastehen wollte. Lar Nougai bat Ino in Guans Auftrag um einen Gefallen.
Die unerwartete Bitte des Chinesen bestand in nichts Weiterem, als ein zuverlässiges Biochemielabor zu benennen, das bereit war, vertrauliche DNA-Analysen durchzuführen.
Um Hilfsbereitschaft bemüht, nannte Ino spontan das Kellermann-Tschong-Institut seiner Freunde in Wiesbaden und lag damit genau richtig. Weil sie vor 13 Jahren den deutschen Beitrag zum gemeinschaftlichen Klonaufzuchtprogramm erbracht hatten, galten die Wiesbadener bei der chinesischen Administration, zumindest in deren Geheimnisträgerkreisen, als vertrauenswürdig. Lar Nougai hatte Ino genau das aussprechen lassen, was die Chinesen von ihm erwarteten. Nun sollten also die Wiesbadener Biochemiker helfen, Licht in eine brisante Verwandtschaftsfrage zu bringen.
Nach dem abrupten Wechsel des Gesprächsthemas wandte Lar Nougai sich zum Gehen und forderte Ino auf, ihm zurück zu seinem Büro zu folgen.
Ino war über das vorgetragene Anliegen verwundert: „Mit dem Auslesen der genetischen Doppelhelix kennen Sie sich aber doch bestens aus. Das haben Sie mir gerade vorgeführt. Für einen Verwandtschaftsnachweis brauchen Sie bestimmt keine Unterstützung aus Deutschland. Jenes Exemplar des ausgestorbenen Dodo hätte nicht das Licht der Welt erblickt, wenn nicht Ihre Experten seine Gene aus altem Gewebe wiedergewonnen und das Tier von Genaberrationen bereinigt und lebensfähig gemacht hätten. Um den Dodo wieder zum Leben zu erwecken, mussten Sie sein vollständiges Genom von Milliarden von Nukleinsäureelementen erfassen, analysieren und rekombinieren. Sie haben damit Spitzenleistungen an der biologischen Forschungsfront erbracht, wieso fragen Sie nach ausländischer Hilfe?“
Nougai lächelte: „Vielen Dank für ihre Anerkennung. Doch es geht bei der gewünschten DNA-Analyse darum, dass der Verwandtschaftsnachweis gerade nicht von einem chinesischen Forschungsinstitut durchgeführt wird. Das zu analysierende Material wird an drei Institute verschickt, nach Russland, Schweden und Deutschland. Die Labors sollen mit absoluter Sicherheit klären, ob ein jüngst aufgetauchter junger Mann wie behauptet in direkter Linie vom letzten chinesischen Kaiser Pu Yi abstammt oder nicht. Die Verlegung der Analyse ins Ausland wäre nicht erforderlich, wenn dieser junge Mann“, und jetzt schaute er Ino mit hochgezogenen Augenbrauen herausfordernd an, „nicht unserem Klonaufzuchtprojekt entstammte, das wir seit 13 Jahren mit Ihnen gemeinsam durchführen.“
Ino blieb unwillkürlich stehen und schaute erschrocken auf seinen Gesprächspartner, der ihm eine höchst besorgte Miene zeigte.
Blitzartig überlegte Ino, ob sein chinesischer Begleiter ihn etwa verdächtigte, diese skandalträchtige Situation begünstigt oder gar verursacht zu haben. Somit war er jetzt nicht aus Hilfsbereitschaft, sondern aus purem Selbstschutz zum Handeln gezwungen.
Plötzlich hatte er das ungute Gefühl, dass sein ganzes Vorhaben zur Besiedlung des Sonnensystems, um dessen Unterstützung er bei der obersten chinesischen Politikebene warb, auf dem Spiel stand. Ja, wenn man so wollte, war seine persönliche Existenz bedroht.
Nugai musste Inos inneres Erschrecken wahrgenommen haben, denn er fuhr fort, während er sich aufmunternd zum Weitergehen umwandte: „Sie müssen sich nicht beunruhigen, Herr Barassa. Sie und ihr Freund Li Huo - oder sollte ich Partner sagen - sind als Genspender von vier Klonen im Lauf des Projekts mehr oder weniger in persönlichem Kontakt zu den Kindern geblieben. So war es auch geplant und abgesprochen. Anders aber sind wir mit den Spendern der übrigen Mitglieder der Schanghaier Klongruppe umgegangen. Diese wurden ausdrücklich dazu verpflichtet, sich von den künstlich in die Welt gesetzten Kindern von vorne herein fernzuhalten. Sie sollten sie nicht einmal zu Gesicht bekommen, um ihnen jede Elternschaftsansprüche aus dem Sinn zu schlagen. Verstehen Sie“, setzte der chinesische Wissenschaftler seine Erklärungen fort, „die Unterstellung, dass irgendwo ein Mensch existiert, der irgendwie mit dem letzten Kaiser verwandt sein soll, beunruhigt uns in keiner Weise. Doch wenn genetisch nachgewiesen werden sollte, dass dieser Mensch, ein elfjähriger Junge, der direkte Sohn des vor 70 Jahren verstorbenen Exkaisers ist, dann ist evident, dass er nicht auf natürliche Weise in die Welt gekommen ist. Das wirft in der Öffentlichkeit Fragen auf, die unser Geheimprojekt in Gefahr bringen könnten.“
„Ich verstehe“, antwortete Ino, „Ihre Sorge gilt dem Umstand, dass das Klonprogramm von subversiven Kräften missbraucht wurde bzw. werden konnte.“
Sie waren inzwischen in Nugais Büro angekommen. Und der Wissenschaftler bot einen Tee an, den Ino gerne annahm.