Dämmerung der Aufgehenden Sonne
Was hatte die Leitung des Klonprojekts zu dem Strategiewandel in der Frage des entführten Jungen veranlasst?
Eine bisher nicht in Erscheinung getretene Gruppe, die sich Kommando „Aufgehende Sonne“ nannte, versandte drei Jahre nach Yushiaos Verschwinden Meldungen über einen vorgeblich wiederentdeckten Spross der Qing-Dynastie an chinesische, japanische und weitere internationale Nachrichtenagenturen. Sie fragten: Wird dieser Jüngling die Geschicke Asiens in naher Zukunft bestimmen? Und zeigten ein Foto eines jungen Mannes, dem man mit etwas Wohlwollen Ähnlichkeit mit dem letzten Kaiser Chinas zusprechen konnte, alleine schon wegen der randlosen Brille, die er wie jener vor 100 Jahren mit ausdruckslosem Gesicht trug. Sie schrieben: „In ihm lebt das Jahrhunderte alte Karma einer großen Herrscherfamilie fort, die an der Seite des japanischen Kaisergeschlechts die Welt in eine harmonische Ordnung führen wird.“
Wie konnte so ein Schwachsinn überhaupt von seriösen Presseagenturen weitergegeben werden? Das hätte nicht einmal in der Sparte „Bunte Welt“ Platz finden dürfen.
Den Nachrichtenverantwortlichen war allerdings zugutezuhalten, dass sie aus datenschutzrechtlichen Gründen das Foto des angeblichen Kaisersprosses nicht verbreiteten. Niemand wusste, wer dieser Junge wirklich war.
Die verbreiteten Meldungen besagten, dass das Kommando „Aufgehende Sonne“ im Besitz von DNA Proben wäre, die den Verwandtschaftsbeweis des Knaben mit Pu Yi erbrächten. Die Aktivisten luden namhafte Biochemielabore ein, Gewebeproben des „Prinzen“ bei ihnen anzufordern und die Untersuchung an dem normgerecht versiegelten Material selbst nachzuvollziehen. Was die Eindeutigkeit der kaiserlichen DNA anging, gab es keine Unsicherheit. Die war bereits in früheren Jahren analysiert worden. Die Ergebnisse lagen der Wissenschaft seit Langem vor. Aber was war mit dem genetischen Material des vermeintlichen Prinzen? Den hielten die selbst ernannten Wiedererwecker der Qingdynastie vor der öffentlichen Aufmerksamkeit seltsamerweise versteckt. Nur in einem Video zeigten sie, wie jemand im weißen Laborkittel einem jungen Mann, dessen Konterfei die Gruppe separat auf ihren Internetseiten verbreitete, in ärztlicher Manier eine Gewebeprobe entnahm. Natürlich bewies das bezüglich der Identitäten des DNA-Spenders gar nichts. Aber es reichte aus, um das Interesse an einem Verwandtschaftsabgleich der zur Verfügung gestellten Zellprobe mit der des Exkaisers zu wecken. Stammte sie wirklich von einem Nachkommen des Kaisers, oder war das alles nur ein Gag?
Es wäre übertrieben gewesen, die Wirkung der Nachricht mit einem Paukenschlag zu vergleichen, als in den Medien verbreitet wurde, dass ein lebender Kaisernachkomme aufgetaucht wäre, dessen Gene eindeutig seine kaiserliche Herkunft belegten. Berühmte Kommentatoren weigerten sich, sich dazu zu äußern.
Erst als das staatliche japanische Genetikinstitut in Kyoto erklärte, dass die ihm zugespielte Erbsubstanzprobe unzweifelhaft auf einen Abkömmling des letzten chinesischen Kaisers zurückzuführen war, von dem allerdings bisher nicht bekannt war, jemals ein Kind gezeugt zu haben, da regten sich auch die großen Blogger im Netz und brachten ihre gewichtige Verwunderung wortreich zum Ausdruck.
Darauf hatte Li gewartet. Denn nun gaben mehr und mehr Agenturen die Meldung als Kuriosum weiter und veröffentlichten dazu ein Video von einem 10bis12-jährigen Jungen, der vor der Kamera wie ein Prinz aus der Verbotenen Stadt vor 130 Jahren nach und nach eingekleidet wurde und dann unter einem Transparent mit der Aufschrift in Chinesisch „Der jüngste Quing“ in aristokratischer Manier posierte. Langsam häuften sich die Reaktionen in den sozialen Netzwerken. Einige spontane Äußerungen drückten Ergriffenheit aus in dem Tenor, dass das Wahre und Schöne endlich zum Durchbruch gekommen wäre. Junge Möchte-gern-Prinzen identifizierten sich mit dem neu entdeckten Hochwohlgeborenen und schworen ihm Treue und Ergebenheit. Sie sahen in ihm die Verwirklichung ihrer Träume von Auserwähltsein und Einzigartigkeit und versuchten mit ihm in Kontakt zu treten.
Obwohl das Video, das den vorgeblichen Kaisersprössling zeigte, mit keinerlei Sound unterlegt war und kein einziges Wort von ihm vernehmbar war, kursierten fantastische Gerüchte und Mythen über ihn.
Die einen mutmaßten, dass er aus Angst vor Entführung im Verborgenen gehalten wurde, die anderen verstanden sein Erscheinen auf den Bildschirmen als Ankündigung eines baldigen Auftritts vor seinen Untertanen und sprachen sogleich von der bevorstehenden Thronbesteigung.
Li fand, jetzt war die Zeit für die geplante Pressekonferenz gekommen. Er sorgte dafür, dass in wenigen Tagen die erforderlichen Vorbereitungen und die Ankündigungen dazu erfolgten.
Das Kaiserprinzspiel fand von nun an reißenden Absatz. Die Spielentwickler arbeiteten auf Hochtouren, um alsbald eine neue erweiterte Version auf den Markt zu bringen, in der die Prinzenrolle vom Konterfei des als Kaiser Abkömmling deklarierten Jungen schon vorbelegt war.
Während zu den Zeiten Yushiaos im Kinderheim die Zahl der Spieler einer Onlinesitzung kaum die Zehn überschritt, bildete sich nun eine Spielergemeinde von Tausenden von Teilnehmern je Neustart. Sie gaben sich sogar mit simplen Rollen von Palastdienern, Wächtern und Soldaten zufrieden, nur um vor ihrem Idol in der virtuellen Welt auf die Knie gehen, für es Waren an den Pforten der Verbotenen Stadt abliefern oder die imaginierten Räume seines kaiserlichen Anwesens virtuell reinigen zu dürfen.
Es wurde zum Privileg, virtuell dem Auserwählten beim Anziehen zu helfen, ihm Speisen vorzukauen oder ihn in der Sänfte auf den Schultern seines je eigenen Avatars zu tragen, durch den man sich im Spiel vertreten ließ. Zweifellos hatte es seinen Reiz, vor allem durch die vernetzten Virtual-Reality-Brillen eine rundum geschlossene Fantasiewelt zu erleben und darin selbst autonom zu handeln, auch wenn man sich vorerst nur auf eine Statistenrolle beschränkte.
Es wurde zum Medienereignis, wenn eine neue Session des Spiels eröffnet wurde. Immer mehr Menschen, in erster Linie Teenager, versuchten sich einen Account, sprich eine Rolle zu ergattern. Aufgrund des entstandenen Hypes schalteten sich auch Erwachsene ein. Einmal aus Neugier, um herauszufinden, was denn so aufregend an dem Spiel war, andere, um spieltechnisches Produktwissen beim Mitmachen zu sammeln.
Da die Spielkonstruktion jedem Teilnehmer eigene Aktionsmöglichkeiten eröffnete, die entlang dem Gesamtrahmen der Handlung frei ausgestaltet werden konnte, entfalteten kreative Köpfe ihre Ideen auf beliebig zu ergänzenden Nebenschauplätzen. Ja sogar professionelle Spielentwickler konnten hier für eigene Produkte ihre neuen Gestaltungsvorschläge auf Akzeptanz testen. Durch die Beteiligung der Fachleute an den ständig neu aufgelegten Massensitzungen stiegen Niveau und Raffinesse der spontan ausgestaltbaren Handlungsverläufe.
Dabei bildeten sich bei diesen Szenenerweiterungen unterschiedliche Genres heraus. Die einen versuchten sich mehr an den Details aus dem historischen Hintergrund des letzten Kindkaisers zu orientieren, andere entfalteten eine bizarre komplexe Fantasy-Welt um die Figur des Kaiserprinzen herum.
Und natürlich gab es auch Liebhaber von Zweikampfszenen. In entsprechenden Zusatzszenen konnten sie sich virtuell mit Fäusten, Schwertern oder Schusswaffen endlos austoben.
Um im Spiel eine Gruppenaktion wie etwa das Anzetteln einer Palastrevolte umzusetzen, bedurfte es realer sozialer Fähigkeiten eines Gamers. Er musste andere Teilnehmer für seine Handlungsideen gewinnen, sie koordinieren und zum spielerischen Erfolg möglicherweise auch nur in einer Zwischenrunde führen.
Was da abging, war gruppenpsychologisch durchaus bemerkenswert. Denn in derartigen Sequenzen erlebten die zusammengefundenen Teilnehmer kollektive Erfolgs- und Misserfolgsgefühle, die sich von denen im realen Bereich, etwa beim Fußballspiel oder bei anderen Team-Sportarten, kaum unterschieden.
Dass die Mitkämpfer nur als Avatare sichtbar waren, schien kein Hindernis zu sein, um Freundschaften zu schließen, die oft über mehrere Sessions hinweg Bestand hatten. Die Auslöser dieser hehren Gefühle entsprangen zwar entkörperlichter Fiktion, waren aber völlig ausreichend, um das Gehirn durch engagiertes Hineinsteigern zu hormonellen Belohnungsausschüttungen zu bewegen. Kenner der Spielewelt vermochten über diese Mechanismen vor allem jugendliche Teilnehmer virtuell zusammenzurotten und dazu zu bewegen, mit ihnen kollektive Szenarien zweifelhaften Charakters umzusetzen und auszuleben.
Es kam zu Szenen, in denen nach einem brutalen Nahkampf der Unterlegene vor aller Augen qualvoll entmannt wurde. Die Gestalter solcher Szenen konnten sich zweifellos auf historische Vorlagen berufen. Denn Eunuchen waren ja bekanntlich nicht vom Himmel in die Verbotene Stadt gefallen.
Die Akteure, die glaubten, nicht auf sadistische hetero- oder homosexuelle Handlungseinlagen verzichten zu können, ließen zwar üblicherweise ihre bedenklich ausgestalteten Gewaltexzesse scheinheilig vom jungen Kaiser verdammen, inszenierten dann aber mit Genuss den qualvollen Vollzug der von ihm auferlegten Strafe.
Die Begeisterung für diese Art von Second Life im Mythos des Kaiserprinzen war allenthalben. Wer aufgrund des kursierenden Videos von der zeremoniellen Einkleidung des vermeintlichen Thronaspiranten ungeduldig auf das Erscheinen des leiblichen Prinzen in der Weltöffentlichkeit drängte, wurde darauf verwiesen, ihn im Spiel zu erleben. Als seriöse Agenturen über den DNA-Test berichteten, der den per Video bekannt gemachten Jungen als Abkömmling der Qing-Dynastie bestätigte, war die Fangemeinde aus dem Häuschen.
Die Qual der Hilfsbereiten
In dieser Situation sollte Ino helfen, das Kaiserfieber unter Kontrolle zu bringen. Kellermann sollte eine Prüfung der biologischen Grundlagen vornehmen und beweisen, dass es sich um eine Fälschung handelte. Alsbald kündigte Ino seinen Besuch dort an.
Als er das Büro der Institutsleitung im Kellerman/Tschong-Labor betrat, schritt er mit Elan auf Klaus zu, um ihn zu umarmen. Der Dicke schien sich seit ihrer letzten Begegnung kaum verändert zu haben. Seine fleischige Hand ließ bei der Begrüßung gleichermaßen die Wucht und die Sanftheit seines Charakters spüren. Ino entging nicht die Anspannung des Riesen und prompt fragte er: „Ist alles gut?“
Klaus wiegte den Kopf hin und her und gab sich einen sorgenvollen Gesichtsausdruck. Dann öffnete er die Tür zum Nebenraum. Dort saß auf einem der Stühle Liu Tschong mit dem Rücken zur Tür. Er saß dort alleine und hatte den Oberkörper frei. Sein Rücken war von Striemen gezeichnet.
„Da, schau dir das an!“ stieß Klaus im Ton der Verzweiflung hervor. Ino war irritiert und begrüßte Liu Tschong, der sich aber nicht zu ihm umdrehte. Stattdessen schlug der schmächtig wirkende Mann sich plötzlich mit einer Peitsche auf den nackten Rücken, zuckte lautlos unter dem zugefügten Schmerz, blieb aber regungslos, stur geradeaus die gegenüberliegende Wand anstarrend, sitzen. Ino trat zwei Schritte vor in das Gesichtsfeld des asiatischen Freundes. Doch der ließ sich nicht stören und holte zum nächsten Peinigerschlag aus, dass Ino unwillkürlich zurückfuhr.
„Komm Ino“, sagte Klaus mit Resignation in der Stimme, „er lässt sich nicht davon abbringen. Er nennt das Schmerzmeditation und behauptet, den Peitschenhieb nicht mehr zu spüren. Inzwischen macht er dreimal am Tag diese Exerzitien.“ Er drängte Ino aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. „Ich weiß nicht, was ich machen soll. Diese Selbstkasteiung wird noch unsere Beziehung und ihn selbst zerstören.“ Tränen stiegen ihm in die Augen und er schluchzte.
„Arbeitet er denn nicht mehr?“, fragte Ino vorsichtig.
„Doch, doch, unendlich viel wie ein Roboter. Im Arbeitsfluss des Labors funktioniert er wie eine Maschine. Für jeden Arbeitsauftrag verlangte er schriftliche Aufgabenstellungen und komplette Materialangaben, dann erledigt er ihn vorbildlich. Jedoch mit seinen Laborkollegen interagiert er nur noch per Durchreiche. Er isst kaum noch.“ Klaus stöhnte. „Ich wollte, dass es sich untersuchen lässt. Aber er lehnt jede ärztliche Hilfe ab, er lässt niemanden außer mir an sich heran.“
Ino schwieg und blickte zu Boden. Klaus richtete sich auf, schluckte seinen Kummer herunter und sagte: „Jetzt aber zu dir. Du bist mit einem Anliegen gekommen“. Nach kurzem Zögern erklärte Ino ihm die Frage zur DNA des entführten Jungen aus dem Klonkinderheim. Er hatte dazu eine Probe aus dem Heim, die dem Entführten unbestreitbar zuzuordnen war, mitgebracht, dann die veröffentlichte DNA des Ex-Kaisers und schließlich die Probe, die von den Entführern dem vermeintlichen Prinzen entnommen und zur Analyse an verschiedene Labors verschickt worden war.
„Und was sollen wir jetzt tun?“, fragte Klaus.
„Ein Gutachten erstellen über den Verwandtschaftsgrad und die Echtheit der von den Entführern verschickten Probe. Famao Guan, der Parteisekretär, wünscht sich einen unanfechtbaren Nachweis, dass der Junge kein Abkömmling des letzten Kaisers und somit die Probe der Entführer manipuliert ist.“
Kellermann schaute Ino festen Blickes an: „O.K.“, sagte er, „wir werden es versuchen. Ich sage Bescheid, wenn wir zu einem Ergebnis gekommen sind.“
„Aber behaltet das Ergebnis bitte für euch, bis klar ist, wie danach weiter vorzugehen ist“, fügte Ino hinzu und deutete dann auf die Tür zum Nebenraum, wo Klaus‘ Partner sich quälte, „und wegen Liu sollten wir in Kontakt bleiben. Ein Problem mit jemandem zu besprechen, hilft gewöhnlich, eine Lösung dafür zu finden.“ Das war aus dem Stand heraus wohl gut gemeint. Aber war das wirklich ein substantielles Angebot an Klaus? Wann hatte Ino denn jemals einen Menschen uneigennützig aus der Patsche geholfen, privat, persönlich? Geschäftlich Konflikte zu lösen, das war sein Metier. Aber wie stark hatte er sich je in persönlichen Dingen helfend engagiert? Sein Motto war, sich von wichtigen Aufgaben nicht durch Sentimentalitäten abbringen zu lassen. Strukturveränderung der Gesellschaft zu mehr Gerechtigkeit bewirken war Gutes tun, nicht aber hier und da Almosen verteilen. Das hatte nur Alibicharakter.
Die Pressekonferenz
Der sogenannte Tempel des irdischen Friedens war ein groß angelegter Gebäudekomplex, dessen Fertigstellung noch nicht abgeschlossen war. Als Xiao und He in der Limousine, mit der sie abgeholt worden waren, sich dem riesigen Neubaukomplex näherten, meinte He: „Das ist doch der Anfahrtsweg zum Bunker, in den wir damals wegen des Meteors verschickt wurden. Ich erinnere mich, dass wir mit LuKa mehrmals versuchten, die Anfahrtstrecke aus der Aufzeichnung für Peixian zu rekonstruieren. Meine Güte, was war das für ein Stress! Aber schließlich haben wir die Bunkereinfahrt ja gefunden. Das ist alles schon wieder zwei Jahre her“, entfuhr es He. Xiao nickte und meinte: „Heute werden wir aber nicht in den Untergrund fahren, sondern irgendwo in diesem Gebäudekoloss zu einem Pressezentrum.“
Sie waren an einer kontrollierten Einfahrt des Geländes angekommen und identifizierten sich elektronisch vom Fahrzeug aus. Ein paar 100 m weiter wurden sie an einem vorgartenähnlich geschmückten Pavillonarrangement abgesetzt. Jetzt mussten sie das Gebäude-Navi aktivieren, das sich auf ihren Handhelds meldete.
Der Nachmittagssonnenhimmel war an diesem Tag mit weißen Wolkenkissen gepolstert. Es herrschte eine lichtdurchflutete Atmosphäre von Leichtigkeit. Die hielt auch noch vor, als die beiden an großzügigen Fensterfronten entlang zu einem Saal gelangten, der als Pressekonferenzraum ausgewiesen war. Es roch nach neuer Farbe und künstlich versprühten Willkommensdüften.
Xiao und He wurden nicht zur Saaleingangstür geleitet, sondern zu einem Nebenraum, wo sie von Ban Dai, einem amtlichen Pressesprecher, freundlich empfangen wurden. Er begrüßte sie aufmunternd und sprach ermutigend auf sie ein: „Ich werde neben euch sitzen und die meisten Fragen selbst beantworten. Nur wenn ich einen von euch ausdrücklich auffordere, dann sprecht. Es geht ja nur darum, zu bezeugen, dass der Junge mit dem Namen Yushiao Wang bei euch im Kinderheim mitaufgewachsen ist und dass ein älterer Mann ihn einmal besucht hat, den Yushiao selbst als seinen Großvater angesprochen hat. Dazu habe ich euch Antworttexte vorbereitet, die ich euch bitte euch einzuprägen, damit ihr sicher sprecht und klare Statements parat habt.“ Damit übertrug er auf ihre Handhelds den Text und erklärte: “Die könnt ihr wie einen Prompter vor euch auf den Podiumstisch stellen und während der Sitzung für die Beantwortung der Journalistenfragen ablesen.“
Ban Dai musterte seine beiden Gäste prüfend und dirigierte sie nun in die Maske zu einem Schminktisch, damit sie eine gutes Bild vor den Kameras machten.
„Du ziehst deine Jacke aus“, sagte er zu He, der ihn überrascht anschaute, „denn die macht dich zu alt. Die Journalisten werden dir nicht abnehmen, dass du ein Internatsschüler bist.“ Tatsächlich wirkte der hochgewachsene Fünfzehnjährige in dem Jackett schon eher wie ein Erzieher als ein Zögling, der in der Altersstufe des vermissten Yushiao war.
He trug ein T-Shirt darunter, das die Olympiasieger vom Vorjahr im Turm-synchron-Springen abbildete, die beiden Chinesen Chang Gengsheng und Jiang Pu, 17 und 19 Jahre alt. Es war Hes Lieblings-T-shirt. Als er Xiao gefragt hatte, ob er das tragen könne, hatte Xiao gesagt: „Unter dem Blaser allemal“.
Auch Ban Dai sah in dem T-shirt kein Problem, wenn He es denn nicht aufleuchten ließ. Es handelte sich nämlich um ein besonderes Shirt, auf dem sich das gezeigte Bild in ein Video von bis zu 20 Sekunden wandelte und abgespielt werden konnte. Man brauchte nur einen kleinen Zipfel am Ärmel zu ziehen. Die Bildpunkte wurden erhellt, gespeist von Energie, die durch die Bewegung des Trägers der so genannten Wearables erzeugt wurde. Das kurze Video zeigte den Synchronsprung der beiden bildschönen jungen Olympiaschwimmer, der ihnen die Goldmedaille eingebracht hatte. Außerdem war zu sehen, wie sie das T-Shirt mit eigener Hand in chinesischen Schriftzeichen signierten.
Xiao, der schon über 30 war und neben dem Teenager He seriöser aussehen sollte, behielt seinen dunkelblauen Blaser an. Der Maskenbildner hatte an den Gesichtern nicht viel zu tun. Die Frisuren wurden altersgerecht ein bisschen zurechtgerückt. Dann gingen sie in den Presseraum und nahmen ihre Plätze auf dem Podium ein. He war aufgeregt, aber er genoss die angespannte Erwartung, die den Raum beherrschte. Nicht alle Sitze im Saal waren besetzt. Aber offensichtlich waren Vertreter aus verschiedenen Ländern, ja sogar aus verschiedenen Erdteilen erschien. Wie aus der Liste der Akkreditierten erkennbar, waren sie nicht nur für Agenturen aus China, Japan und anderen asiatischen Ländern gekommen, sondern es waren auch europäische, australische, Nord- und Südamerikanische Medienvertreter anwesend. Alle zusammen waren es dennoch kaum 50 Leute.
Xiao ließ seinen Blick über die ihm zugewandten Gesichter schweifen und fragte sich, ob darunter auch jemand war, der an der Entführung Yushiaos beteiligt gewesen sein konnte. Doch dafür fand er keinen Anhaltspunkt.
Die Pressekonferenz lief programmgemäß ab. Ban Dai erklärte zu Beginn, dass er lediglich in der Öffentlichkeit klarstellen wolle, dass der als Prinz ausgegebene junge Mann auf dem verbreiteten Foto der entlaufene Yushiao Wang war und aus dem Heim stammte, dem Xiao als Erzieher und He als Zimmergenosse bis heute angehörte. Man sollte verstehen, dass aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes der Name des Heims nicht genannt werden durfte. Es wurde sogar ausdrücklich darum gebeten, auch darauf zu verzichten, diesbezügliche spekulative Vermutungen publik zu machen.
Dann kam Xiao an die Reihe. Er erklärte vor dem Auditorium, dass er jahrelang im Wechsel mit anderen Betreuern für Yushiao verantwortlich gewesen war, dass der Junge ein fanatischer, wenn auch nicht besonders guter Online-Spieler des Kaiser-Games war, an dem er schon vor Jahren in der Rolle des Prinzen teilgenommen hatte, also zu einer Zeit, als es den Hype um das Spiel noch gar nicht gab.
„Glauben Sie, dass seine Fixierung auf die Rolle des Prinzen in diesem Spiel damit zu tun hat, dass er in einigen Medien als echter Kaiserabkömmling ausgerufen wurde?“, fragte einer der Anwesenden. Xiao antwortete mit einem klaren „Ja“ und unterstrich seine Entschiedenheit mit einem deutlichen Kopfnicken. Weitere Erklärungen gab er nicht ab, weil Ban Dai ihm ein unmerkliches Zeichen gab, sich zurückzuhalten.
Dann richteten sich die Augen auf He. Der 15 jährige genoss seine Übersichtsposition auf dem Podiumsstuhl und bestätigte, dass Yushiao ihm ausdrücklich seinem Großvater vorgestellt und davon gesprochen hatte, bald zu diesem nachhause gehen zu dürfen. Ban Dai ergänzte: „Es war dieser Mann, der vor Jahren den kleinen Yushiao im Kindergartenalter der Vollzeitschule anvertraute.“
Weitere Fragen zu diesem Thema ließ Ban Dai nicht mehr zu, stattdessen erklärte er, dass die Polizei seit geraumer Zeit wegen des Verdachts der Kindesentführung nach diesem Großvater fahndete, der sich wohl vermutlich mit dem Jungen ins Ausland abgesetzt hatte.
Dann erklärte Ban Dai, dass die Erziehungsbehörde ihn lediglich damit beauftragt hatte, in einer öffentlichen Klarstellung mit handfesten Fakten den Gerüchten von der Wiederauferstehung der Kaiserfamilie entgegenzutreten. Die Aufklärung des Falls obliege den Ermittlungsbehörden.
Damit war auch schon die Pressekonferenz beendet. Die Teilnehmer erhoben sich mit mehr oder weniger enttäuschter Miene. Hier und da kam noch ein kurzes Gespräch auf. So auch auf dem Podium.
Zufrieden lobte Ban Dai die beiden Zeugen, dass sie ihre Sache gut gemacht hatten. Und noch während er mit Gesten zum Ausdruck bringen wollte, dass nun auch informell nichts weiter mehr zu besprechen war, da schritt einer der Journalisten – er mochte schon nahe an die fünfzig sein – direkt auf He zu, machte ihm ein Kompliment wegen des Olympia-T-shirts und reichte ihm und Xiao jeweils eine Business-Karte mit den Worten: „Vielleicht sieht man sich in Frankfurt in Deutschland wieder“ und wartete auf eine Reaktion der Angesprochenen. Aber Ban Dai intervenierte sofort: „Keine weiteren Kommentare“, und zerrte He und Xiao hastig in das Hinterzimmer des Konferenzraumes. Er forderte sogar von Xiao das übergebene Kärtchen ein, hatte aber wohl nicht bemerkt, dass der Mann ein weiteres an He ausgehändigt hatte. Der steckt es schnell weg und schwieg. Erst auf der Rückfahrt, Ban Dai hatte ihnen wieder ein Taxi bestellt, das sie zurück zum Heim im Schanghaier Childrens Hospital brachte, zückte He das Kärtchen hervor, las den Namen und fragte: „Kennst du einen Joachim Transfeld aus Frankfurt?“
„Nie gehört.“