Zweitheimat Kinderhospital
Vorm Krankenhausgebäude in der Dong-Fang-Road angekommen, fühlten sich Xiao, Arr und Lu ein wenig strapaziert, obwohl sie sich körperlich nicht angestrengt hatten. Aber Lu und Arr schlenkerten vom Taxi, das sie bequem vorm Eingang hatte aussteigen lassen, lustlos mit ihren Taschen zum Nebenportal des medizinischen Zentralgebäudes.
Arr kam plötzlich auf die Idee, noch etwas zu trinken zu kaufen, bevor sie das Gebäude betraten. Obwohl es Xiao leid war, jetzt noch vor der Ankunft einen Abstecher zu einem Straßenkiosk zu machen, willigte er ein, weil er wusste, dass Arr auf eine bestimmte Litchi-Limonade aus war, auf die er drei Monate lang in Frankfurt hatte verzichten müssen. Denn jeden Ersatz für dieses Markengetränk lehnte er ab. Lieber gab er sich mit Sprudelwasser zufrieden. Cola-Getränke waren ihm wegen der Zusätze versagt, die sein implementiertes Speisekontrollsystem ablehnte. In mindergefährlichen Fällen wie diesem zwangen die Nanosensoren die Jungen zwar nicht, das, was sie geschluckt hatten, wieder herauszuwürgen. Stattdessen wurden sie psychisch auf die Ablehnung solcher Getränke konditioniert. Somit waren ihre Betreuer davon entlastet, diesbezügliche Verbote ständig überwachen und durchsetzen zu müssen. Sie hatten so schon genug damit zu tun, den Spezialanforderung ihrer Zöglinge gerecht zu werden.
Xiao erlaubte Arr, die begehrte Limonade an einem Stand etwa 100 m die Hauptstraße herunter zu kaufen. „Aber denke daran, hier musst du in Yuan bezahlen, nicht in Euro“, rief Xiao ihm nach, damit der Junge nicht wegen fremder Zahlungsmittel auffiel. „Wir warten hier auf dich, bevor wir zusammen hinaufgehen.“
Er setzte sich mit Lu auf die erhobene Steinfläche, die zu einem Ziergartenarrangement des Hospitals gehörte. So hatte Lu Zeit und Gelegenheit, vor der Begrüßung der Heimkameraden Kas Abschiedsszenario von vor 5 Stunden von seiner elektronischen Brille anzeigen zu lassen. Er prüfte, ob es etwas gab, das er beim Wiedereinfinden in die Gruppe besonders zu berücksichtigen hatte. Denn für die anderen Kinder waren Arr(He) und Lu(Ka) ja nur die kurze Zeitspanne der vergangenen Stunden abwesend gewesen, also seit der Zeit, als He und Ka mit der Erzieherin Peixian das Heim Richtung Flughafen verlassen hatten. In den Augen der anderen kehrten sie jetzt mit Xiao von dort zurück. Sie konnten die ausgewechselten Zwillinge nicht unterscheiden.
Lu bereitete sich mental auf die Vortäuschung der Kurzzeitabwesenheit vor, was ihm keine Mühe machte. Der Zimmergenosse Bang Nu, den er jetzt praktisch von Ka übernahm, war ein ein Jahr jüngerer vitaler rundlicher Typ, der sich nicht sonderlich dafür interessierte, wer mit ihm im Zimmer schlief.
Arr kam vom Kiosk mit drei Flaschen seines bevorzugten Durstlöschers zufrieden lächelnd zurück. „Wollt Ihr auch eine?“ bot er Xiao und Lu an, das linke Augenlied etwas hängen lassend, weil er wohl verschmitzt damit rechnete, dass sie ablehnten. So war es auch. Jetzt hatte er für sich einen kleinen Vorrat seines geliebten Getränks. Xiao forderte ihn auf, gleich jetzt am besten hier vor der Tür von seinem Saft zu trinken und sich in Ruhe auf die Wiederbegegnung mit den Mitschülern einzustellen. „Ach ja“, meinte Arr schmunzelnd, „mein Kaisersöhnchen wartet auf mich“, auf Yushiao anspielend, der sich so gerne in der Rolle des Prinzen sah. „Gab es Schwierigkeiten mit ihm?“, wollte Xiao wissen.
„Nö, He hatte in letzter Zeit keine Probleme mit ihm gehabt“, sagte Arr lapidar, „alles paletti“.
„Also gehen wir“, versuchte Xiao sie in Schwung zu bringen. Dann begaben sie sich zum Aufzug des Seitentrackts des Kindergroßkrankenhauses und fuhren in den siebten Stock. Im Stockwerk der Klonkinderabteilung herrschte eine spätnachmittägliche Siesta- Atmosphäre, jedenfalls hatten sich einige Jungen zum lösen ihrer Hausaufgaben in einen der wohnlichen Gemeinschaftsräume niedergelassen, wo zu den luftig wehenden Fenstervorhängen eine leise Musik spielte, die zur allgemeinen Entspannung beitrug. Auch der Blick aus dem weiten Fenster über die sonnige Großstadt bewirkte ein erhabenes Gefühl von Souveränität. Der ein oder andere Klonjunge räkelte sich auf den Polstermöbeln, während er über sein Handgerät mit irgend jemandem kommunizierte. Als Xiao durch die offene Tür eintrat, musste er sich bemerkbar machen, um die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu lenken. Die Jungen sprangen auf und begrüßten Xiao mit Handschlag und freundschaftlichem Schulterklopfen. Xiao war beliebt bei seinen Zöglingen und sie freuten sich, ihren Betreuer nach gut drei Monaten Abwesenheit wieder dabei zu haben. Den herzlichen Empfang honorierte Xiao mit ein paar kleinen Mitbringseln aus Frankfurt. Die anderen sieben ständig in Schanghai verbleibenden Jungen der Klongruppe reisten ja nicht so rege wie die Wechselzwillinge und die mussten über ihre Flüge nach Frankfurt strikt den Mund halten, damit die anderen nicht neidisch wurden. Andererseits konnte man nicht behaupten, dass der Erziehungsplan für die Klongruppe keine Ausflüge und Reisen vorsah. Um die Neugier und den Bewegungsdrang der 10-13-jährigen zu stillen, wurde einiges unternommen. Teilnahme an Sportwettkämpfen und Bildungsreisen standen genauso auf dem Programm wie Treffen mit Gruppen aus anderen chinesischen Jugendheimen. Die Schanghaier Leitung des Klonaufzuchtprojekts machte es sich keinesfalls leicht mit ihren Sonderzöglingen. Dass diese Kinder durch Klonierung erzeugt waren, blieb allerdings geheim. Jedem Kind wurde eine mehr oder weniger plausible Erklärung dafür gegeben, dass es keine Eltern im herkömmlichen Sinne hatte.
Arr und He suchten ihre Zimmer auf, um ihre Taschen darin loszuwerden. Lu traf seinen Zimmergenossen Bang Nu auf dem Gang, der ihn mit einem „Ach, wieder zurück?“ begrüßte und fragte: „Sag mal, was machst du denn die ganze Zeit am Flughafen?“
„Online spielen, während ich auf Xiao warte“.
„Das Kaiserspiel etwa?“ fragte Bang.
„Hm“, antwortete Lu. Arr traf Yushiao in seinem Zimmer an, der nicht einmal aufblickte, als er hereinkam. Also legte Arr schweigend seine Sachen ab, stellte seine verbliebenen Limonadeflaschen ins Kühlfach, das jedem Bewohner im Schlafzimmer zur Verfügung stand, dann ging er hinaus, am Verwaltungsbüro vorbei auf den weitläufigen Balkon, wo er schauen wollte, was die andern machten. Es war nicht mehr lange bis zum Abendessen.