Parteisekretär Famao Guan
Als der Politiker Famao Guan in die oberste Parteispitze Chinas gewählt wurde, war er in der Weltöffentlichkeit kaum bekannt. Er war ein Aufsteiger aus der Provinz, dessen Geltungsanspruch sich kaum jemand aus seiner Umgebung entziehen konnte. Er zeigte nicht nur intellektuelle Brillanz, sondern machte durch Erscheinung, Auftreten, Körpersprache und Gestik den Eindruck, bodenständig und volksverwachsen zu sein, was wesentlich zu seiner Popularität beitrug. Eine gewisse Grobschlechtigkeit, mit Witz gepaart, machte ihn zu einer Führungspersönlichkeit, die oft mit Mao Tse Dong verglichen wurde. Doch er selbst wies solche Vergleiche wohlweislich von sich: „Heute muss sich niemand dadurch beweisen, dass er wie einst Mao ohne Hilfe den Jangtse durchschwimmen konnte, sondern vielmehr dadurch, dass er sich von der Leistungskraft unseres Landes zum Mond und wieder zurücktragen lässt.“ Er hatte gut reden, denn er war der erste hochrangige Politiker, der mit beachtlichem Propagandagetöse vor drei Jahren die chinesische Mondstation besucht hatte.
In jenem Jahr, in dem Famao Guan in seine zweite Amtszeit gewählt worden war, bot sich Ino eine Gelegenheit, mit dem Politiker persönlich in Kontakt zu treten. Inos Partner Li hatte ihn auf die Möglichkeit hingewiesen. Er ersuchte um eine persönliche Unterredung mit dem Parteisekretär am Rande einer internationalen Konferenz. In der ging es um globale Energieversorgung und Kooperationsbereitschaft bei regionalen zwischenstaatlichen Konflikten. Das Konferenzthema betraf wegen der allenthalben vorherrschenden Trinkwasserknappheit die heftig umstrittene Regulierung von Flussläufen durch Gebiete mit mehreren Anrainerstaaten genauso wie die gleichzeitige Ausbeutung von Erdgasvorkommen in Grenzgebieten mit anderen Staaten, aber auch die konkurrierende Förderung von Bodenschätzen der Tiefsee außerhalb nationaler Hoheitsgebiete. Jedoch Konflikte in Bezug auf die Weltraumnutzung gehörten nicht zum Problemkatalog dieser wichtigen Regulierungskonferenz zur Abklärung nationaler Wirtschaftsinteressen, weil die Aktivitäten außerhalb der Erde per Definition ohne territoriale d.h. auch ohne nationale Rechtsansprüche erfolgten. Der Weltraum ließ sich nicht aufteilen wie zum Beispiel das Südpolgelände, nach dem Motto: Jede interessierte Nation bekommt ein Stück zugesprochen, solange es etwas zu verteilen gibt.
Auch die Luftraumgliederung zur Festlegung der Überflugrechte ließ sich nicht in den Weltraum hinein fortführen. Sondern niemandem durfte der Zugang zu Bereichen oberhalb des Luftraums der Atmosphäre verwehrt werden. Es gab da draußen rechtlich gesehen keinerlei Sperrgebiete, auch dann nicht, wenn staatliche oder private Unternehmen groß investierten, um dort dreidimensionalen Territorialanspruch zu erheben. Damit waren selbst aufwendige Raumfahrtanstrengungen nationalen Rechtshoheiten entzogen. Jedenfalls stand es so auf dem Papier. De facto versuchten Institutionen der Nationalstaaten oder auch Nationalstaatenverbände weiterhin ihren Einfluss in klassischer Weise geltend zu machen, so wie damals die USA und die Sowjetunion in den Pionierzeiten der Raumfahrt während des Kalten Krieges, als sie Flaggen auf dem Mond oder sonst außerhalb der Erde hissten. Inzwischen mussten sie sich auf subtilere Methoden zur Sicherung von Einflusszonen einlassen.
Aufgrund dieser Sachlage rechnete Ino damit, in der chinesischen Führung auf offenen Ohren zu stoßen, zumindest ein Aufhorchen zu bewirken, wenn er Vorschläge zur geordneten Besiedlung des außerirdischen Sonnensystems unterbreitete.
Ino hielt sich selbst nicht für Columbus und der Parteisekretär hatte wohl auch keinerlei Ähnlichkeit mit der spanischen Königin Isabella. Aber der deutsche Weltraumvordenker wusste, dass sein Vorhaben auf die Unterstützung einer hohen politischen Institution angewiesen war, wenn es denn je umgesetzt werden sollte. Ino konnte mit Interesse auf höchster Ebene des chinesischen Regimes rechnen, weil es um die Sicherung von Einflussmöglichkeiten ungeheuren Ausmaßes im Weltraum ging. Das war es, was ihm die entscheidenden Argumente für seinen Vorschlag lieferte.
Der sah vor, das Sonnensystem mit bemannten Frontposten zu durchsetzen, damit keine Machtgruppe aus der Globalbevölkerung mit überkommenen Partialinteressen das Geschehen um die Sonne herum einseitig beherrschte. Es galt jede Diskriminierung im Weltraum zu unterbinden, sei sie noch so sehr mit Staaten-, Volksgruppen-, Religions- oder sonstigen Zugehörigkeiten als Rechtfertigungen zur Benachteiligung anderer begründet. Niemandem durften Vorrechte zur Überwachung des Sonnensystems gewährt werden. Stattdessen war jedem Menschen als Kind der Sonne uneingeschränktes Lebens- und Aufenthaltsrecht im gesamten Sonnensystem zu garantieren. Natürlich war Ino bewusst: Die Macht, die sich zum Garanten der Neutralität aller Raumbesiedlungsanstrengungen machte, sicherte sich selbst das weitestgehende Recht, Einfluss darauf zu nehmen. Doch damit musste die Menschheit wohl oder übel leben. Denn ohne sogenannte Garantiemächte hätten sich auch auf der Erde die Vereinten Nationen nicht zu dem entwickelt, was sie waren.
Ino ging es nicht darum, Territorium zu erobern, hier einen Planeten zu besetzen, dort einen Kometen zu kapern oder eine Flugroute zu beanspruchen. Nein, er wollte den Weltraum für das menschliche Leben schlechthin erschließen und zu diesem Zweck Pioniere entsenden, die ein Netzwerk aufspannten, das weiter reichende humane Lebensmöglichkeiten im Raum schuf, so dass mehr und mehr Menschen ihnen folgen konnten. Erst wenn der Homo sapiens auf Dauer außerhalb der Erde autark zu leben vermochte, war er in der Lage, Kolonien in dieser Ferne zu bilden. Die Frage, an welches Weltraumobjekt, ob Mars, Mond, Komet, Asteroid oder gar nichts, die Siedler sich dabei banden, war zweitrangig. Warum musste man überhaupt im Weltraum irgendwo „landen“? Luft zum Atmen gab es bekanntlich nirgendwo im interplanetaren Raum. Also war es für einen Weltraumcamper sinnvoll, er verweilte in seinem Raumwohnwagen, für den es da draußen zeitlich und räumlich unbegrenzte Parkmöglichkeit gab. Wichtig war, wie er sich dabei aufstellte und organisierte. Allen bisherigen Erkenntnissen nach war die völlige physische Ungebundenheit eines menschlichen Individuums im All die günstigste und vielversprechendste Lösung. Auch sollte das Überleben eines Menschen nicht von vornherein an eine Gruppe gebunden sein. An erster Stelle waren alle Voraussetzungen für einzelnes menschliches Leben im All zu erfüllen, erst dann war über Gruppenbildung zur Erweiterung seiner Lebensmöglichkeiten nachzudenken. Die Ausbreitung der Menschheit im All vollzog sich am besten wie die Entwicklung des Lebens auf der Erde: Zunächst bildeten sich Einzeller. Erst dann, als ihre Lebensgrundlagen gesichert waren, schlossen sie sich zu Gemeinschaften zusammen und bildeten höchst komplexe mehrzellige Systeme. Genauso sollten zunächst vereinzelte Siedler den Raumpionieren folgend sich zu neuen weltraumgerechten Sozialformen zusammenfinden. Von größter Wichtigkeit für die Ausbreitung der individualisierten Einzelsiedler war allerdings, dass die Kommunikation aller Menschen im Sonnensystem untereinander gesichert war. Das hatte oberste Priorität. Ohne kommunikativen Kontakt zu anderen Menschen musste jeder da draußen eingehen wie ein Primelchen. Keiner durfte alleine gelassen und von der Verbindung zu seinen Mitmenschen abgeschnitten werden.
Eigentlich war es verwunderlich, dass der Parteisekretär Famao Guan den mit gedämpfter Stimme vorgetragenen Ausführungen Inos ohne Ungeduldsäußerungen zuhörte. Andernfalls hätte wohl auch sein Assistent, der Ino als Minhio Young vorgestellt worden war und nun aus jeder Regung seines Herrn sofort unmittelbaren Handlungsbedarf ableitete, dem Bittsteller das Ende seiner Redezeit bekundet.
Selbstverständlich hatte Ino nicht darauf gesetzt, dass der Parteisekretär von Vorabinformation zu diesem Treffen wusste, geschweige denn sie zur Kenntnis genommen oder gar persönlich gelesen hatte. Es mussten wohl Stichworte wie Sonnensystembesiedlung oder das Schlüsselwort holistische Sonnenraumdurchsetzung gewesen sein, die ihn zum Aufmerken und Zuhören bewogen. Als Ino nach der Darlegung seines Kernanliegens eine Pause einlegte, verblüffte ihn der Politiker Ino mit einer fast überstürzend wirkenden Zustimmung zu dem Vorhaben. Er wies seinen Assistenten an, Ino für sein Anliegen Kontakte zum Weltraumministerium und zum chinesischen Forschungsrat herzustellen. Dann reichte er, sein Interesse unterstreichend, Ino die Hand und lächelte ihn aufmunternd an. Ino versuchte, die unerwartet positive Reaktion kaum würdigend, schnell noch die Person seines Freundes Li Huo als Koordinator der ersten anstehenden Projektaktivitäten ins Spiel zu bringen. Doch um diese Personalie sich zu kümmern, blieb Guans Assistenten Minhio Young überlassen, der anschließend mit Ino schnell ein paar Terminvereinbarungen traf.
Klingelzeichen und Lautsprecheraufrufe drängten inzwischen auf die Fortsetzung der Konferenz und Ino lotete umgehend aus, was sich auf die Schnelle aus dem so erfreulich positiven Signal des Spitzenpolitikers machen ließ. Er war erfahren genug, um zu wissen, dass das ihm von höchster Stelle erwiesene Wohlwollen keinesfalls als endgültige Zustimmung oder Entscheidung anzusehen war, sondern sich alsbald verflüchtigte, wenn er selbst es nicht schleunigst und handfest aufgriff. Als erstes war geboten, den Unterredungsinhalt in irgendeiner Form von anderen einflussreichen Gesprächskreisen direkt oder indirekt bestätigen oder besser inhaltlich von ihnen übernehmen und als ihre eigene Position vertreten zu lassen. Darum setzte sich Ino sofort noch im Foyer des Kongrssgebäudes daran, entsprechende Mitteilungen an den Assistenten Minhio Yong zu richten und Einlassungen bei den als nächste Ansprechpartner genannten Ministerienvertretern zu machen. Mit Berufung auf die gewogene Befürwortung des Parteisekretärs Guan, die sein Assistent Minhio Yong bezeugen konnte, bat Ino in seinen Mails dringend um Prüfung seiner Vorschläge. Und tatsächlich, das wirkte: Einer der Angesprochenen, Lar Nougai, Controller von Wissenschaftsprojekten, reagierte noch am gleichen Sitzungstag, aus dem einfachen Grund, weil er, ebenfalls Teilnehmer der Konferenz, in geeigneten Momenten leichter elektronisch zugänglich war als durch persönliches Vorstelligwerden.
Bei Lar Nougai hatte Ino mit seiner Mitteilung zufällig den passenden Moment erwischt, da der sich als Vertreter des Wissenschaftsrates bereits aus der laufenden Konferenzdiskussion ausgeklinkt hatte und gerade sein elektronisches Handgerät nach unterhaltsamer Ablenkung durchsuchte.
Die in diesem Augenblick von Ino eingegangene Kurzmitteilung weckte sein Interesse. In der Antwort bekundete er sofort Gesprächsbereitschaft. So kam es, dass sie noch am selben Tag einen Begegnungstermin verabredeten. Das Gespräch datierten sie auf eine Woche später.
Es fand im Tempel des irdischen Friedens statt, jenem architektonisch mutigen und gigantischen Gebäudekomplex im Norden von Schanghai. Dank der guten Gebäudeinnennavigation fand Ino zügig zum vereinbarten Treffpunkt.
Der Chinese hatte sich nach asiatischer Manier als Gastgeber aufgespielt und hoffte, sich der Bedeutung seines Gastes dadurch würdig zu erweisen, dass er ihn zur Teilnahme an einem besonderen Ereignis einlud, das in einem Labortrakt des weitläufig angelegten Gebäudes vonstattengehen sollte. Bei den Örtlichkeiten im Tempel handelte es sich um Räume des biologischen Forschungsinstituts der Schanghaier Universität.