Das Kaiserprinzmärchen
Darin ging es um einen jungen Prinzen, der unerkannt heranwuchs. Aber eine Gruppe Kaisertreuer nahmen ihn als Hoffnungsträger unter ihren Schutz, um ihn zu gegebener Zeit als Erlöser seines Volkes Geltung zu verschaffen und endgültig als ihren Herrscher einzusetzen.
Der junge Kaiserprinz hatte eine gute Fee, die ihn schon als Kindergartenkind auf den Kaiserthron des riesigen Reiches gesetzt hatte. Er sollte sich frühzeitig auf seine große Aufgabe in der Zukunft vorbereiten. Doch als er so alt war, dass er zur Schule hätte gehen müssen, wurde er gezwungen, den Thron wieder zu verlassen. Jetzt war das Land ohne obersten Regenten. Zum Schutz vor seinen Widersachern versteckte die Fee das Kind. Nun stritten sich vier starke Männer um den jungen Kaiserprinzen. Einer von ihnen wollte ihn aus dem Land jagen. Doch nach fünf Jahren – der Kaiser war inzwischen schon elf Jahre alt geworden – preschte einer der vier starken Männer vor und trug den Jungen im Auftrag der Fee kurzer Hand zurück auf den Thron. Da verneigten sich alle im Reich vor ihm und das ganze Land war fröhlich und vergnügt. Das jedenfalls war das Endziel, das der Gewinner des Spiels gegen alle Unbill und Feindschaften mit Geschick, List und Diplomatie erreichen konnte. Doch um dorthin zu gelangen, musste sich ein Gamer zur Rettung des Kindkaisers in der Rolle des heldenhaften Zhang Xuns - das war einer der vier starken Männer - gegen seine Widersacher durchsetzen. Xun musste Koalitionen und Bündnisse eingehen und sich per Vertrag mit zwei Konkurrenten gegen den Dritten verbünden. Der Vertrag musste auf einem goldenen Vlies eingeschrieben werden. So sah es das Spieldrehbuch vor. Für den Rollenspieler von Zhang Xun war es keineswegs einfach, das in der virtuellen Märchenspielwelt gegen alle Widerstände zu erreichen. Denn zum Leidwesen des Kaiserretters wurde das Vlies gestohlen. Erst mit der Hilfe eines Eunuchen aus dem Kaiserpalast erfuhr Zhang Xun, wie er das Vertragsvlies wieder in seinen Besitz bringen konnte. Damit waren auch schon die entscheidenden Kernelemente der Handlung genannt, die nun von den Spielern nach eigenem Duktus auszubauen waren. Weitere Figuren konnten die Teilnehmer selbstverständlich hinzuschaffen, wenn am Start alle Mitspieler den Ideen zustimmten.
Ungewöhnlich war, dass der Zeitpunkt des jungkaiserlichen Wiedererscheinens unveränderbar in der Handlungslogik festgelegt war, und zwar auf den 1. Juni 2038. Das war in etwa sechs Jahren. Xiao fragte sich, was dieser Unsinn sollte. Entweder galt die imaginierte Zeit des Spiels oder die wirkliche Zeit. Aber Spielhandlung an den aktuellen Kalender zu knüpfen, war widersinnig.
Xiao wollte dem nachgehen und machte sich im Netz schlau über die Geschichte des letzten Kaisers von China, an dem sich grob, wie er vermutete, die Handlungsidee des Spiels orientierte. Der war bekanntlich nur als kleiner Junge ein echter chinesischer Kaiser gewesen. Darum sprachen die Historiker vom Kindkaiser. Erst Jahrzehnte später, als er erwachsen war, so fand Xiao in verschiedenen Artikeln, setzten ihn die Japaner im besetzten Gebiet der Mandschurei als Marionettenkaiser ein. Gesteuert wurde die Marionette von einer menschenverachtenden Soldateska im Gefolge des japanischen Generals Ishiwara Kanji, der als fanatischer Nationalist berüchtigt war und an die Überlegenheit seiner Rasse glaubte. Nach der Niederlage der Japaner im Zweiten Weltkrieg überlebten einige dieser Fanatiker als nationalistische Gruppierung. Sie hatten Andere in den Opfertod für den japanischen Kaiser geschickt. An dem Glauben, eine naturgegebene Führungsrolle gegenüber allen Menschen inne zu haben, hielten sie noch nach Jahrzehnten fest. Xiao, dem Religion fremd war, las in weiteren Texten, dass ihre Vorstellungen im Nichiren-Buddhismus gründeten. Danach waren sie berufen, die Welt in eine Phase dramatischer Konflikte zu zwingen, um sie auf diesem Wege grundlegend zu reinigen und nach ihrer weltgeschichtlichen Läuterung in die goldene Ära des wahren Buddhismus zu führen. „Unglaublich“, seufzte Xiao und schüttelte den Kopf über dem, was er da las. Aber das ging ja noch weiter: In diesen Prozess der Weltläuterung wollten die Fanatiker China als Erstes hineinzerren. Dazu verfolgten sie wie vor hundert Jahren die Idee eines panasiatischen Bundes von China, Mandschurei und Japan.
Xiao hielt bei seinen Internet-Recherchen inne, weil er glaubte, sich zu weit von dem harmlosen Spielinhalt des Kaisermärchens entfernt zu haben, um noch eine Verknüpfung der Prinzenstory mit der chinesischen Geschichte zu vermuten. Darum wollte er sich nun das Spiel selbst genauer ansehen. Jetzt auf dem Langstreckenflug hatte er dazu genügend Zeit. Er meldete zunächst für sich selbst ein Account als Mitspielerkandidat an, um die Einstimmung in die Handlung und die Beschreibung der Basisrollen kennen zu lernen, in die man schlüpfen konnte. Zuerst war da natürlich die Rolle des Prinzen selbst. Die war aber schon vergeben.
Lu wurde ungeduldig. Xiao bat ihn, noch zu warten. Denn wenn die Rollen einmal verteilt waren und der Einstieg für alle Mitspieler gelungen war, konnte das Spiel sich über Tage erstrecken. Einfach vor dem Ende auszusteigen, war unfair gegenüber den Mitspielern. Xiao war unsicher, ob er sich und seine Schützlinge jetzt darauf einlassen sollte. Schließlich wusste er, dass Pilar diese Art von Onlinespielen in Frankfurt verboten hatte.
Zweifellos bestand auch für Spieler seriöser Spiele, deren dreidimensionalen Simulationseffekten man sich im 360° Sichtumfeld auf Dauer kaum entziehen konnte, die Gefahr des Wirklichkeitsverlusts, für Teenager allemal. Oft genug war es notwendig, Dauerspieler, die wie übergeschnappte Schauspieler ihre Theaterrolle im wirklichen Leben nicht mehr ablegen konnten, ihrer Obsession zu entreißen.
Diese Bedrohung hielt Xiao im Fall des Prinzenspiels wegen seines obskuren und märchenhaften Hintergrunds für zu weit hergeholt, und für Arrs 3D-Fantasie mit seinem Cyberfreund galt sie erst recht nicht. Bei denen war das ja nun wirklich nichts anderes, als würden die beiden ihre Fantasievorstellungen gemeinsam auf einem Blatt Papier aufmalen.
Dem Marketing und Vertrieb der Game-Industrie war sehr daran gelegen, den Bildungsspielen in 360°-3D ein seriöses Image vor Eltern und Erziehern zu geben. Dass sie heftig für ihre Produkte warben, war verständlich. Denn derart anspruchsvolle Produktionen erforderten einen beachtlichen Aufwand, der sich durch hohe Verkaufsumsätze rechnen musste. Die bei diesen Spielen zu verwendenden Virtual-Reality-Hochleistungsbrillen wiesen für die eindrucksvolle Raumvortäuschung in allen Blickrichtungen eine superhohe Auflösung auf. Sie wurde durch eine kaum vorstellbare Bildpunktmenge pro 100stel Sekunde erreicht, um den Spieler glauben zu machen, das Spielgeschehen in einen echten Rundum-Horizont zu erleben. Die Hersteller versuchten, die Käuferschicht der Bildungsbürger vom hohen Erziehungswert der 3-D-Spiele zu überzeugen. Ihr Argument war, der spielende Mensch lernte im Verbund mit seinen Mitspielern sozial zu handeln. Sie behaupteten, dass ein Spieler in einem 360°-Szenario fürs wirkliche Leben in nie da gewesener Eindringlichkeit üben konnte, in klassischen Konfliktsituationen richtige Entscheidungen zu fällen. Die Wirkungen standen der Intensität und Nachhaltigkeit von Pilotentrainings am Flugsimulator in keiner Weise nach und konnten für sich in Anspruch nehmen, höchsten Bildungsansprüchen zu genügen. Mit Begeisterung wurden beispielsweise Spiele aufgenommen, in denen klassische Theater- oder Filmgeschichten nachgespielt wurden, seien es griechische Dramen, Goethes Faust, Shakespeares Mac Beth oder andere gleichrangige Kunstwerke, jedoch mit der zusätzlichen Herausforderung, mit den Mitspielern alternative Handlungsabläufe zu entwickeln und durchzuspielen.
So bewegte sich die Spielekultur erfreulicherweise weg von den militärischen Ballerübungen hin zu den fantastischen Möglichkeiten der virtuellen Konfliktbewältigung ohne den Einsatz überpotenter Schuss- bzw. Tötungswaffen. Mit den Produkten der neuen Art lernten Gamer ihre Überlegenheit auf andere Weise zu beweisen als durch Mord und Totschlag.
Besonders für Heranwachsende war zu verhindern, dass dem pädagogischen Wert, den diese Spiele zweifellos hatten, die psychische Gesundheit der jungen Trainees geopfert wurde.
Die Szene der Superspiele hatte es geschafft, dass aktionsbegierige Gemüter sich voll in die virtuellen Zwangslagen der Handlungsdramatik hineinversetzten.
Die Verantwortlichen mussten darum sicherstellten, dass engagierte Spieler seelisch unbeschadet aus diesen Vorstellungen wieder ausstiegen, auch dann, wenn sich für sie keine Lösung ihrer virtuellen Konflikte abzeichnete. Bei mächtig einschlagenden Games musten sie ihnen dringend beibringen, mit den Mehrweltenmöglichkeiten ihres Bewusstseins richtig umzugehen. So jedenfalls lautete, auf einen Nenner gebracht, das Ergebnis internationaler Pädagogen- und Psychologenkongresse und Expertenvereinigungen in jüngster Zeit zu diesem Thema.
Der Gesetzgeber erließ Vorschriften, die die Erziehungsbehörden des Softwarevertriebsgebiets alsbald umsetzten.
Jeder Teilnehmer eines solchen Spiels musste sich seitdem von einer zertifizierten Beobachtungsstelle überwachen lassen. Sobald er sich an einer Spielsitzung beteiligte, wurde er für das Spiel identifiziert, angemeldet und überprüft. Bei hohem Spielzeitaufkommen musste er in regelmäßigen Abständen einen Fragenkatalog beantworten, sich auf Reaktionsgeschwindigkeit testen lassen und gegebenenfalls für ausgiebige Interviews per Bildtelefon bereithalten. Zur Diagnose von exzessivem Spielverhalten wurde auch die Analyse von Mimik und Sprachverhalten herangezogen. Diese Vorgehensweise galt für alle amtlich zertifizierten Spiele, die in der Ausbildung welcher Art auch immer übers Netz mit Mehrpersonenbeteiligung zum Einsatz kamen. Der Maßnahmenkatalog gegen das Überschnappen, wie der Realitätsverlust durch Dauerspielen genannt wurde, umfasste Auflagen zur Verringerung der Spielzeiten, Abschalten des Spielaccounts bis hin zur Verordnung ambulanter Behandlungen durch auf Spielsucht spezialisierte Ärzte. Aber es soweit überhaupt kommen zulassen, sollte die vorbeugende Supervision ja gerade verhindern.
Selbstverständlich waren neben den Pädagogen und Psychologen auch die Neurowissenschaftler in dem Themenkomplex engagiert. Denn schließlich wurde die erlebte Wirklichkeit im Gehirn verarbeitet und es gab zahlreiche Studien über die physisch beobachtbaren Effekte im Organ der Billionen Nervenverknüpfungen. Somit hätte man erwarten können, dass sich auch Pilar als Neurologin der Frage widmete, wie virtuelle Welten in heranwachsenden Gehirnen verarbeitet und darin von tatsächlicher Wirklichkeitsbewältigung unterschieden werden.
Doch das Gegenteil war der Fall. Pilar empfand den Einsatz von Rollenspieltrainings in virtuellen Komplettumgebungen als Störung ihrer Forschungsarbeit. Ganz einfach, weil die Probanden ihrer Langzeituntersuchung, also ihre Jungs, sich aufgrund ihrer deutsch-chinesischen Doppelpräsenz bereits andauernd gleichzeitig in zwei streng unterschiedenen, allerdings realen Welten zu bewähren hatten. Pilars Argument gegen den Einsatz von 3D-360°-Spielesoftware war, dass ein Zwilling sich in der virtuellen Welt nicht wie gewöhnlich über Headsetkamera und Mikrofon an den Aktionen des anderen beteiligen konnte. Er sah nicht, was dem anderen vorgegaukelt wurde. Im Doppelpräsenzprojekt dagegen waren ihre Zwillinge völlig darauf eingestellt, jede ihrer parallelen Lebenssituationen gemeinsam zu erleben, einzuschätzen, und angemessen darauf zu reagieren.
In der virtuellen Welt war aber nicht möglich, dass zwei Teilnehmer wie eine Person agierten. Verzog sich eines der Klonbewusstseine in eine virtuelle Spielwelt, die seine ganze Aufmerksamkeit in Beschlag nahm, dann war der Effekt der Doppelpräsenz verloren und die Zwillinge konnten sich ihre Erlebnisse nur nachträglich erzählen, wie wenn sie von ihren Träumen berichteten, die sie naturgemäß ganz alleine durchlebten, weil ihnen ihr Bruder dabei ja nicht zugeschaltet werden konnte, jedenfalls bis jetzt nicht.
Im Schanghaier Klonkinderheim sahen die chinesischen Pädagogen keinen Konflikt mit der Doppelpräsenzerziehung. Diese Zusatzanforderungen stellten ausschließlich die Frankfurter auf Pilars Drängen an die Klonkinder ihrer Obhut. In Schanghai kümmerte sie das nicht.
In China waren die erzieherischen Spiele ein wichtiges Instrument der Schulausbildung. Dort waren Games zum häufig eingesetzten Lehrmittel geworden und so hatte auch Xiao sie schätzen gelernt. Persönlich durchkämpfte er mit den Schanghaier Heimklonen – alle zusammen bildeten eine ganze Fußballelf – spannende Spiele, in denen sie in Avatar-Teams gegeneinander antraten. So spielten sie, kooperierend in Einheiten und Seilschaften, Bergbesteigung, Mondbesiedlung, Tiefseeexpeditionen, Katastrophenbekämpfung und ähnliche Einsätze, die oft mit ein paar Stunden Spielbeteiligung nicht erledigt waren, sondern sich mit Unterbrechungen über Wochen hin erstrecken konnten. Xiao beobachtete mit Freude und Genugtuung wie seine 10 bis 12 jährigen Mitspieler in heller Begeisterung, mit bemerkenswertem Geschick und viel Fantasie das Spielgeschehen vorantrieben und sich nicht nur den technischen Herausforderungen gewachsen zeigten, sondern auch Lernerfahrung in Teamgeist und Verantwortungsbereitschaft machten, von denen sich mancher Erwachsene eine Scheibe hätte abschneiden können.
Aber damit konnte man Pilar nicht kommen. „Solche Tugenden lernen Sie besser in Herausforderungen, die die wirkliche Welt für sie als Kinder bereithält. Aus ihrer eigenen Fantasie können sie mit gleichaltrigen Gefährten den Mann im Mond oder sonst was viel kindgerechter spielen. Kinder sind erfinderisch genug und brauchen nicht die stereotypen Spinnereien von profitorientierten Softwareentwicklern.“ Damit hatte sie ihren Standpunkt unmissverständlich bezogen und ließ keine Einwände mehr gelten, auch wenn Xiao anführte, dass sich ihre Argumente schon seit Jahrzehnten bei Comics, Film- und 3-D-Vorführungen als wirkungsloser und darum unnötiger Kinderfantasieschutz erwiesen hatten. „Im Gegenteil“, sagte Xiao, „die wachsende Verbreitung und erhöhte Eindringlichkeit der Medien hat immer auch zu einer verstärkten Anregung jugendlicher Fantasie geführt.“ Junge Menschen bedienten sich dieser Ausdrucksmittel kreativ, wenn man sie ihnen in geeigneter Form an die Hand gab. Viele Spiele waren ja, so argumentierte er, gerade dazu angelegt, von den Anwendern selbst weiterentwickelt und auf ihre Wunschszenarien abgestimmt zu werden.
Pilar konnte zwar durch Verbote verhindern, dass die Klone in Frankfurt unter der Aufsicht ihres Personals im Klinikgebäude von Games ferngehalten wurden. Aber sie erreichte damit nicht, was sie wollte, weil auch die Lehrer in der Ganztagsschule, die die Klone in Deutschland besuchten, nicht auf die modernen Lernmitteln verzichteten.
Im Flugzeug war Lu die verbleibende Zeit hauptsächlich damit beschäftigt, sich in das Spielszenario einzulesen, bzw. mit Xiaos Hilfe eine angemessene Einstiegsrolle ausfindig zu machen und inhaltlich auszugestalten. Auch wenn er im Spiel nur ein Diener des Kaisers war, war es von Vorteil, die Anlage des Palastes, seine Vorgesetzten und Konkurrenten zu kennen, um im Verlauf des Spiels in höhere Ränge des kaiserlichen Hofs aufzusteigen. Das machte Lu großen Spaß, nahm aber auch viel Zeit in Anspruch, so dass er nur widerstrebend seine virtuellen Aktionen unterbrach, als die Maschine auf dem Schanghaier Flughafen landete. Von dort ging es wie gewohnt nach Hause zum Kinderhospital.