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Gewohnheitsreisen
 


Am Morgen des 28. April 2032 wurden die beiden Klonkinder Lu und Arr in der Frankfurter Klinikwohnung für ihren fällig gewordenen Vierteljahresaustausch nach Schanghai abgeholt. Sie waren zwölf Jahre alt, Lu eine Replikation von Ino Barassa und Arr eine von Inos Freund Li Huo. Wie zu jedem Quartal traten sie ihre Reise an, um gegen ihre gleich aussehenden Zwillingsbrüder Ka und He im Schanghaier Klonkinderheim ausgewechselt zu werden, diesmal um den Sommer von Mai bis August in China zu verbringen. Von den Betreuern war Xiao an der Reihe, um sie zu begleiten.
Die Jungen liefen die Treppe herunter und warteten in der Empfangshalle auf den Abholservice, der sie zum Flughafen zu bringen hatte. Warum konnten die Kerlchen eigentlich nicht alleine ohne Begleitung reisen, fragte sich Xiao, obwohl ihm die Aufgabe als Beaufsichtiger der Klonkinder keinesfalls unangenehm war. Aber es war doch eine Menge Geld, das dafür ausgegeben wurde, dachte er bei sich.
Die beiden Pubertanten begegneten auf dem untersten Flur der Klinik Fertilisationspatienten, die zu Informationsgesprächen oder zur Behandlung ihres Fortpflanzungsproblems eintrafen und nun die Anmeldung suchten, um einen Termin wahrzunehmen oder erst abzustimmen.
„Die können nicht ficken“, flüsterte Arr Lu ins Ohr, während sie ihre Reisetaschen vorbei an hereintretenden Paaren gemächlich hinter sich herzogen.
„Ach, Quatsch“, korrigierte ihn Lu, „bei denen wird nur kein Kind daraus.“
Arr blieb hartnäckig: „Nein, nein, die machen die typischen Bedienungsfehler!“ kicherte er, „wahrscheinlich stöpselt der Mann falsch. Die sollten die Anleitung besser lesen oder die FAQs, die zu ihren Geräten häufig gestellten Fragen“, amüsierte er sich.
Jetzt griff auch Lu den spaßigen Gedanken auf: „Die wollen auf den berührungslosen Austausch umstellen wie wir mit unseren Kommunikationsbügeln.“ Sie prusteten vor Lachen. Sie hatten vor zwei Wochen eine verbesserte Version ihrer Kontaktgeräte erhalten. Die waren bequemer zu tragen und fielen kaum noch auf, weil sie den inzwischen beliebten Datenbrillen und Kopfhörern nachempfunden waren. Das Neue daran war, dass sie diese Geräte nun zusätzlich zur üblichen Bedienungsweise durch Gedankenbefehle, allerdings nur für ein paar Grundfunktionen, steuern konnten. Einstellungen wie lauter, leiser, vor- und zurückzoomen oder heller, dunkler stellen bei Bildern und Geräuschen, die sie von ihrem Zwilling im fernen Kontinent empfingen, konnten sie nun allein durch intensives Darandenken anpassen.
Ihr Erzieher Xiao hatte, als sie auf das Taxi zum Flughafen warteten, beide Sprösslinge in der Klinikeingangshalle kurz alleine gelassen, um Pilar in ihrem Büro Bescheid zu geben, dass sie nun abreisten. Die Jungen hatten sich eigentlich schon vor zwei Stunden von ihrer Mutter verabschiedet, als diese eine Pause der Patientenbehandlung einlegen konnte, um sich ihren Zöglingen vor deren Abreise zu widmen und von ihnen eindringlich vernünftiges Benehmen und Gehorsam abzuverlangen. Doch nun kam sie nochmals mit Xiao aus den Behandlungsräumen hervor, um die beiden nacheinander in die Arme zu nehmen und ihnen guten Flug und eine gute Zeit in Schanghai zu wünschen. Es schwang bei ihr ein Moment von Schuldigkeit mit, weil sie den Jungen die Reisestrapazen zumutete, allein wegen ihres hartnäckigen Wissenschaftsinteresses. Aber die Zwölfjährigen nahmen die allvierteljährlichen Trips und Umgebungswechsel als naturgegebene Notwendigkeit hin.
 
Arr, der auf einem Vitamin gespickten Fruchtgummi herumkaute, sah auf dem Weg zum Ausgang in der Kontaktbrille, die ihm eine ständige Videoverbindung zu seinem Zwillingsbruder gewährte, dass sich He gerade in Schanghai aus dem Bett bewegte und mit den Händen übers Schlafgesicht fahrend sein Bewusstsein auf vollen Einsatz hochfuhr.
„Ach, ihr seid doch von gestern“, begann He sofort mit vom Schlaf verkrätzter Stimme sein Ebenbild in Frankfurt zu necken, darauf anspielend, dass die Tageszählung in Europa neun Stunden gegenüber der chinesischen Zeitzone hinterher war. Er belebte am frühen Morgen Reminiszenzen aus der vergangenen Nacht.
Die beiden Zwillinge hatten sechs Stunden zuvor ein gemeinsames Erlebnis. Arr war am frühen Abend wegen der bevorstehenden, aber eigentlich nicht ungewohnten Reise sexuell erregt und wollte unbedingt dem Ebenbild in Schanghai das an seinem Körper hervorstehende Geschlechtsteil zeigen, besser, es an seinem prachtvollen Anblick teilhaben lassen. Da He mit einem anderen Schanghaier Jungen in einem Raum schlief, suchte er lieber die Toilette auf, um sich ungestört der von seinem Bruder angestoßenen Gefühlssteigerung hingeben zu können. So konnte er seinem Frankfurter Double per Kopfkamera uneingeschränkten Blick auf den jetzt auch bei ihm erblühenden Körperteil gewähren. Während Arr, von einem Zimmergenossen ungestört, seiner Lustentfaltung ungehemmten Vorschub leistete, musste He sich im Schanghaier Heim etwas bremsen, um in dem hallenden Kachelraum der Nasszone des Heims nicht durch Seufzer den Mitbewohnern aufzufallen. Für die per Videobrillen verbundenen zwölfjährigen Zwillinge war die gemeinsame Gefühlsaufwallung eine Neuentdeckung, auch wenn beide schon vorher zu ihrer Verwunderung nächtlichen Samenerguss erlebt hatten. Elektronisch und rhythmisch verbunden, schwangen sie sich nun wie auf einer Kinderschaukel höher und höher bis zum maximalen Punkt, wo die Atmung anhält und man glaubt, ganz oben auf dem schwindelerregenden Gipfel der Aufwallung stehen zu bleiben, dann aber die Anspannung des Aufstiegs löst, sich schließlich genussvoll aufgibt und einfach fallen lässt.
In der Schanghaier Wohnung war eines der anderen Kinder vom Nachbarzimmer erwacht und hatte mitbekommen, dass sich nächtens jemand zur Toilette begab. Heimlich folgte es He. Als es das seltsam rhythmische Stöhnen aus der Zelle hörte, gab es Laut wie ein Hund und schrie: „Hei, du Wichser, was ist da los?“ Das war ein zwei Jahre jüngerer, ebenfalls geklonter chinesischer Junge, der noch nicht ahnte, was es bedeutete, in die Pubertät zu kommen, auch wenn er wie viele Preteenies versuchte, sein geschlechtliches Noch-nicht-vermögen durch vollmundiges Sexgeschwätz auszugleichen, um möglichst erwachsen zu wirken. Doch He war weise genug, darauf nicht zu reagieren. Auch Arr, der die Situation über die Fernverbindung miterlebte, ließ sich zunächst nicht beim Lustantrieb stören. Doch durch die lautstarke Fremdeinwirkung verzögerte sich ihr gemeinsamer Vulkanausbruch, wurde gehemmt und versiegte schließlich völlig.  Dennoch konnte der Störenfried auf der Schanghaier Toilette keinen Triumph feiern. Denn, um eine Reaktion auf seine verächtlichen Töne zu bekommen, musste er abwarten, bis die Spülung verrauscht war. He öffnete die Zellentür, und als das einen ganzen Kopf kürzere Großmaul vor ihm stand, musste es sich schnell ducken, um im letzten Moment dem Schlag auszuweichen, der ihm dort galt. Erst Hes Rückhand traf dann den Petzer am Unterkiefer, dass er im doppelten Sinne den Mund hielt und ihn auch später vor den Mitzöglingen nicht wieder aufzumachen wagte. Nach diesen Nah- und Fernerlebnissen hatte  Arr etwas mehr Zeit gebraucht, um einzuschlafen, war aber pünktlich zum Reiseantritt wieder aufgewacht und nun wie gewünscht mit Xiao und Lu in der Klinikeingangshalle erschienen.

 Bevor Pilar ihre beiden Schützlinge in Xiaos Reiseobhut verabschiedete, hatte sie in ihrem Klinikbüro einen Blick auf die Überwachungsdaten der Klongehirne geworfen, auf die sie mit ihren Geräten permanenten Lesezugriff hatte. Sie hatte grobe Turbulenzen der Hirngefäßdurchblutung während der Nachtaufzeichnung der stetig aktiven Hirnscanner bei Arr und He festgestellt. Als Neurologin war sie besonders neugierig auf die pubertären Veränderungen in den Gehirnen der Jungen. Darum ahnte sie, dass ihr in den vergangenen Stunden hervorragendes Bild- und Datenmaterial zugeflossen war, das auszuwerten sie sich alsbald anschicken würde. Es kam eine spezielle Begeisterung in ihr auf, das lebendige Aufkeimen und Reifen der Sexualentwicklung so unmittelbar in den Gehirnen ihrer ans Herz gewachsenen Adoptivsöhne zu beobachten.
Die Aussicht, diese mit der Verpuppung einer Schmetterlingslarve vergleichbaren Reifungsprozesse endlich in präzise wissenschaftliche Beschreibungsstrukturen zu bannen, bewog sie, sich spontan aus Dankbarkeit noch einmal von ihren Protagonisten so herzlich zu verabschieden. Lu und Arr genossen die spontan bekundete Zuwendung ihrer Pflegemutter. Arr mochte ihren herben Duft, den sie so regelmäßig wie ihren weißen Kittel an sich trug, obwohl die Ärzteschaft sich weitgehend dieser Uniformierung entledigt hatte. Lu entdeckte, als sie sich ihm zur Umarmung näherte, ein Härchen auf ihrer Wange, das Pilars Zupfbehandlung offenbar entgangen war. Doch das ließ ihn den Genuss ihrer mütterlichen Wärmeausstrahlung auf Nasennähe nicht nehmen. Gewöhnlich vermied die Wissenschaftlerin körperliche Berührungen von Haut zu Haut bei ihren Jungen - aus hygienischen, gesundheitlichen Gründen, wie sie sagte. So war sie nun einmal: Ihre Mutterliebe gab es nur in wissenschaftlicher Verpackung. Wer aber durch ihre äußere Verhaltensschicht hindurch in ihr Inneres hineinzufühlen vermochte, kam in den Genuss rückhaltloser Zuneigung und liebevoller Zärtlichkeit. Ihre fünf Jungs, ihr leiblicher Sohn Mumo genauso wie die beiden Zwillingspaare Arr He und Lu Ka, hatten das längst erkannt.
Aber Xiao hatte, obwohl er nun schon seit Jahren als Betreuer im Klonprojekt mitarbeitete, den Dreh mit ihr noch nicht raus. Sie war seine Chefin. Ihm erschien ihr Umgangsstil zu schroff und zu direkt. Er fand, dass sie im Zweifelsfall keine Rücksicht darauf nahm, ob er in Auseinandersetzungen mit ihr sein Gesicht wahren konnte oder nicht. Er selbst war durchaus ein umgänglicher Typ. Wenn er lachte, warf sich seine Oberlippe weit auf, dass sein Zahnfleisch sichtbar wurde, was ihm einen kindlich verletzlichen Gesichtsausdruck verlieh. Für Frauen wie Isabel machte ihn das jedoch sympathischer.  Dadurch erschien er ihr weniger als Macho. Den langen dünnen chinesischen Kindergärtner hielt mancher wegen seines sanften, freundlichen Umgangs für schwul, was aber nicht zutraf. Er hatte Isabels Gunst in Schanghai beim letzten Kindertransport gewonnen, Da waren sie sich zum ersten Mal begegnet. Auch wenn sie keine tiefer gehenden Absichten für eine dauerhafte Beziehung verbanden, nahm Xiao mit Genugtuung Isabels Freude wahr, ihn nach mehrmonatiger Trennung wieder in ihrer Nähe auftauchen zu sehen. Sie jedenfalls begehrte ihn.