Gefahr vom Himmel
Nach der Ankündigung der Meteorzertrümmerung in den Medien verwandelte sich im Westen wie im Osten das bis dahin vorherrschende Desinteresse an den Geschehnissen in allgemeine Verunsicherung und Aufregung. Das lag nicht an den Kassandrarufen der religiösen Prediger, die schon immer die Massen der Wochenendeinkäufer in den Fußgängerzonen und auf den Vorplätzen der Supermärkte zu agitieren versuchten, sondern an einer wachsenden Besorgnis. Die Menschen fühlten sich bedroht. Sie neigten jetzt viel häufiger dazu, sich spontan in der U-Bahn, in Warteschlangen bei den Behörden, an den Kassen der Kaufhäuser oder bei Sportereignissen im Stadion auf die Bedrohung anzusprechen. Ein Gefühl von Schicksalsgemeinschaft kam auf. Hamsterkäufe nahmen zu. Die Habachthaltung der Leute wurde durch die Medien ständig gesteigert. Obwohl sich wochenlang an der Situation des aus dem Weltraum herannahenden Objekts kaum etwas änderte, stand mittlerweile das Thema in der öffentlichen Diskussion ununterbrochen an erster Stelle. In jedem Interview, ob Politiker, Kunstschaffender, Sprecher vom Technischem Hilfswerk, Polizei, Roten Kreuz, Feuerwehr, Gewerkschaften aller Couleur, immer wieder wurden sie unter vorgehaltener Kamera nach ihrem Bedrohungszustand befragt. Wie sie sich jetzt persönlich fühlten, welche Vorkehrungen sie empfahlen und was sie selbst zum Schutz ihrer Familie unternahmen. Um das Thema nicht langweilig werden zu lassen, wurden die Journalisten erfinderisch. Sie befragten Tierpfleger im Zoo, ob sie am Verhalten der Tiere so etwas wie Frühwarnzeichen erkennen konnten oder organisierten nächtliche Veranstaltungen zur Himmelsbeobachtung, wenn die Wettervorhersage Wolkenlosigkeit versprach. Sie berichteten von Initiativen, Lebensmittel für Nachbarschaftskollektive in gemeinsamen verwalteten Beständen vorzuhalten, von Selbstschutztrainings und Evakuierungsübungen. Die Menschen wurden zunehmend von einer Art Fieber ergriffen, das sich am meisten in den Städten ausbreitete.
Die sich anbahnende Ausnahmesituation stellte das hoch komplexe urbane Alltagsleben grundlegend infrage. In den Ballungszentren fühlten sich die Bewohner bedroht wie die Londoner durch die Luftangriffe Nazideutschlands im Zweiten Weltkrieg.
In den dicht besiedelten Metropolen gab es keine Möglichkeit, solchen Schlägen auszuweichen und selbst einzelne Zerstörungen konnten weitreichende Wirkung haben, wenn sie zentrale Versorgungsstellen, Infrastrukturknotenpunkte oder neuralgische Zentren der Kommunikationsnetze trafen.
Das alles war dem willkürlichen Zufall überlassen. Man konnte diesem Gegner keine Strategie bei der Auswahl der Ziele unterstellen. Die hätte man durchschauen und konterkarieren können. Die Vorstellung, dass die Meteorreste wild in die Landschaft einschlugen und nicht auf die Zerstörung von Flughäfen, Bahnlinien, Brücken und Produktionsanlagen zielten, mochten die einen als eine gewisse Erleichterung empfinden. Andere hielten flächendeckende Schutzmaßnahmen für erstrebenswert. Das war aber, schon rein logisch gedacht, nicht durchführbar. Deswegen schienen auch Evakuierungen unangebracht zu sein. Man konnte dicht besiedelte Räume mit zig Millionen Einwohnern nicht aufs offene Land hinaus katapultieren. Wo sollten sie denn untergebracht und versorgt werden? Um die Gefährdung der Menschen zu mindern, mussten sie sich weit über riesige leere Regionen verteilen, damit sie den statistischen Trefferwahrscheinlichkeiten des Gesteinsregens aus dem All entgingen. Das konnte man vergessen.
Einige zur Abenteuerlust neigende Menschen zogen mit ihren Kindern zum Dauerkampieren in die so genannte freie Natur um. Endlich schienen geländegängige Hochleistungslimousinen ihren Sinn zu erfüllen. Auf der Suche nach Ausweichmöglichkeiten durchpflügten sie mit Breitprofilreifen querfeldein die Naturlandschaften.
Andere glaubten durch Reisen in Wüstenländer der Gefahr zu entrinnen. Aber das konnten sich nur wenige leisten. Die Evakuierung von Europäern in die Sahara stand zu keinem Zeitpunkt zur Debatte. Stattdessen hatten Schutzmaßnahmen im Kleinen Hochkonjunktur. Der Ruf nach Bunkern und unterirdischen Schutzräumen wurde immer lauter. Die Tiefbauindustrie konnte sich vor Aufträgen kaum retten. Sie bot Heimbunker im kompletten Überlebenspaket an. Die 1 m 50 × 2 m mal 2 m 50 großen Wohncontainer für ein bis zwei Personen aus stahlbetonähnlichem Material, nur etwas leichter, statteten sie mit einem Notaggregat, Wassercontainer, Chemietoilette, Sauerstoffgerät und Brandschutzvorrichtungen aus. Die Kästen waren wegen ihrer Größe allerdings schwer zu transportieren.Die Käufer konnten Signalgeber, Warnlampen, Leuchtraketen, Funknetzanbindung und einen Grundbestand an Lebensmitteln gleich dazu buchen.
Diese Notbehausungen, aufzustellen auf ausgewiesenem Gelände der Stadt wie Grünanlagen, Parkplätzen oder aber auf eigenem abgelegenen Privatgelände waren für diejenigen gedacht, die sich in mehrstöckigen Häusern unsicher fühlten oder auch in Kellern, wenn sie befürchteten, unter einem zusammengestürzten Haus begraben zu werden.
Zwar wurden 100 Jahre alte Bunker aus Weltkriegszeiten für Stadtbewohner zugänglich gemacht, aber der dadurch gewonnene Schutzraum reichte bei Weitem nicht aus, um die Leute auch nur eines Stadtviertels darin angemessen unterzubringen. Darum fand der Vorschlag weitgehende Zustimmung, die alten Bunkersysteme ausschließlich als Notunterkünfte für die im Umkreis gelegenen Krankenhäuser, Pflegeheime und nicht zuletzt als Stützpunkt für Einsatzkräfte des Katastrophenschutzes zu verwenden. Die Kommunen, die sich von vorausschauenden Politikern leiten ließen, hatten sich gerade noch früh genug dem staatlich geförderten Schutzbunkernetz angeschlossen. Das sah nicht nur unterirdische Räume vor, sondern auch ein Röhrenverbundsystem, mit dem die Bevorratung und gegebenenfalls auch die Belegung der Unterschlupfe koordiniert werden konnte für den Fall, dass der Aufenthalt an der Erdoberfläche für die geretteten Insassen verhindert war. Die Verbindungsröhren, deren einzelne Segmente aus Beton gefertigt wurden, waren so angelegt, dass ein erwachsener Mensch auf allen Vieren hindurchkriechen konnte. Aber um das alles zu erstellen und einzurichten, brauchte es seine Zeit. Wo man sich nicht frühzeitig zum Bau der vernetzten Bunker hatte entschließen können, mussten die Leute eben mit ihren Kellern Vorlieb nehmen und darauf hoffen, dass sie nicht getroffen wurden.
Einige Selbstschutzorganisationen glaubten nicht darauf verzichten zu können, wie gegen drohende Atombombenangriffe in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mehr oder weniger sinnlose Duck-and-cover-Trainings durchzuführen. Trotz ihrer Unangemessenheit dienten sie jetzt mehr zum Selbstschutz als damals die Übungen gegen den befürchteten Nuklearkrieg. Der bevorstehende Beschuss mit Meteortrümmern war nicht mit radioaktiver Strahlung verbunden war. Niemand rechnete mit der Geißel der atomaren Strahlung. Man war schon hinreichend geängstigt durch den simplen Beschuss von glühenden oder wieder erkalteten Gesteinsbrocken. Die Bereitschaft nahm zu, sich einfachste Schutzmaßnahmen zu eigen zu machen, die man treffen sollte, wenn man zu Hause, in der Werkhalle, im Büro oder unterwegs in Bahnhöfen oder im eigenen Fahrzeug vom Meteor Einfall überrascht wurde.
Aus den Medien kannte jeder eine Fernsehfigur namens Jo Berger, ein agiler, aber eher schmächtig wirkender Mittzwanziger aus Thüringen, der in fingierten Interviews ermüdend aufdringlich erklärte, wie er persönlich sich zu schützen gedachte: „Ohne meine Aramidfaserdecke gehe ich nicht mehr aus dem Haus“, war seine Parole, die er wie einen Werbeslogan dem Publikum unermüdlich einhämmerte. Bei dem angepriesenen Produkt handelte sich um eine Art kugelsichere Schutzdecke, die den doppelten Widerstand einer 0,5 mm Stahlplatte bot und kleine Geschosse abwehrte. Sie nutzte natürlich nichts, wenn ein Mensch von einem schweren Brocken getroffen wurde, der ihn samt seiner Faserdecke unvermeidlich niederschmettern und unbesehen Hackfleisch aus ihm machen und englisch durchbraten würde. Die Decken aus schusssicherem Aramidfasern kosteten mehrere 100 € und den tatsächlichen Nutzen zogen nur der Hersteller und Vertreiber daraus. Recht betrachtet war es auf Dauer nicht zu machen, diese Matte ständig für eine Gefahrensituation griffbereit zu halten, die auf den einzelnen Menschen bezogen statistisch von sehr geringer Wahrscheinlichkeit war.
In der Fertilisationsklinik im Frankfurt Öder Weg hatte Chefarzt Hans Hiller die Bewohner des Hauses zum Thema Schutz vor Meteoreinschlägen zusammengerufen, um gemeinsame Maßnahmen abzustimmen. Eine Evakuierung der Klinik hielten alle für unangemessen. Mit stationären Patienten wurde in absehbarer Zeit kaum gerechnet. Wer glaubte, im Gebäude selbst nicht hinreichend gegen den Meteoritenbeschuss sicher zu sein, für den sollte ein Schutzraum im Keller eingerichtet werden. Wem das aus Angst vor dem Einsturz des Hauses zu unsicher erschien, der sollte sich eigene persönliche Maßnahmen einfallen lassen. Damit war das Thema für die Klinikverantwortlichen gegessen. Knut Ontok, der Biologe, kündigte an, dass er sich lieber im Zoo aufhielt, wenn es so weit wäre. Klaus Kellermann und Liu Tschong zogen es entsprechend vor, zu dem Zeitpunkt in ihrem Labor zu arbeiten. Ino wiederum würde, so sagte er, in irgendwelchen Meteorschutzkoordinationszentren gebraucht, also im Klinikgebäude gar nicht anwesend sein. So dass es nur noch Peixian, Isabel, Pilar und Hans überlassen blieb, sich Gedanken zu ihrem Schutz zu machen.
Peixian, die in China bereits Erdbebenerfahrung gesammelt hatte, winkte ab: „Wird nicht so schlimm werden. Ich bleibe wo ich bin.“ Mit entsprechender Resolutheit schlossen sich Isabel und Pilar dieser Haltung an. Hans warf die Frage auf, ob denn für die Kinder, Mumo, ArrHe und LuKa besondere Vorkehrungen getroffen werden sollten. Das war mit deren Schule abzuklären. Wahrscheinlich würde sich die Schulleitung dazu entschließen, die Kinder vor Beginn der akuten Gefahrenzeit nach Hause zu schicken. In dem Fall sollten die drei Jungen bei den Frauen bleiben. Allerdings blieb das Problem bestehen, dass auch jetzt immer noch niemand den Niedergang zeitlich und geographisch ausreichend eingrenzen konnte. Denn der Meteor ließ sich nun mal nicht kontrolliert sprengen, wie Fachleute ein Altgebäude in perfekt dosierten Explosionen in sich zusammenstürzen ließen. Die Bombardierung des Weltraumobjekts verursachte eine Zertrümmerung in unvorhersehbar viele Stücke, deren Flugbahnen nicht präzise vorausberechnet werden konnten.
Die Experten ließen keine Gelegenheit aus, zu beteuern, dass die künstliche Zerstörung des Himmelskörpers die beste Schutzmaßnahme war, um das Schadensrisiko zu senken. Auch wenn sie einräumen mussten, dass dadurch die Wirkung weit über die Erdoberfläche verteilt wurde.
Ihre Auffassung war, dass ein so großer geschlossener Brocken ohne die frühzeitige Zerschmetterung durch Menschenhand schlimmere Schäden verursacht hätte als ein weitflächiger Gesteinsregen als Folge der gezündeten Explosion. Eine kompakte Kollision des unzerstörten Meteors mit der Erde wäre, so argumentierten sie, mit einer Energieentladung verbunden gewesen, die der eines Atomschlags gleichgekommen wäre. Sie hätte eine Druckwelle mit weiträumigen Zerstörungen und eine bis in die Stratosphäre aufsteigende Staubwolke mit globalen Klimaauswirkungen nach sich gezogen und war darum mit allen Mitteln zu verhindern.