Der Umzug
Während man in der Frankfurter Klinik dem kosmischen Ereignis mit einer gewissen Gelassenheit entgegensah, gestalteten sich die Pläne der Schanghaier Projektkollegen ganz anders.
„Wir werden evakuiert. Projektleiterin Yan Pu hat uns heute früh erklärt, dass wir in einen neuen Bunker im Norden von Schanghai umziehen werden“, meldete Ka seinem Zwillingsbruder nach Frankfurt, der aber noch schlief. „Schade, dass er jetzt nicht mitguckt“, dachte Ka, „aber er kann sich unseren Umzug ja in der gespeicherten Aufzeichnung ansehen“.
Auch Arr versuchte He zu alarmieren, damit er die Ereignisse so nachhaltig aufnahm, als wäre er selbst dabei anwesend. Die Zwillinge wussten schon selbst, wann sie ihren jeweiligen Bruder ausdrücklich auffordern mussten, alle ihre elektronischen fernen Sinne zu schärfen, um ja nichts Wichtiges in ihrer Doppelpräsenz zu verpassen. Die Umsiedlung in den Schutzbunker war zweifellos so ein Fall. Denn beim nächsten Zwillingsaustausch in ein paar Wochen musste der neu Eingewechselte auf die Erwähnung und Anspielungen seiner Klassenkameraden auf vergangenen Ereignisse und Vorkommnisse wie sein Bruder reagieren, der dies tatsächlich mit ihnen erlebt hatte, aber dann inzwischen zum Gegenort abgereist war.
Der Umzug der Klonkindergruppe aus der Dong Fang Road nach Da Chang, 20 km draußen an der Nordperipherie von Schanghai, wo ihre Schutzunterkünfte sein sollten, erfolgte als Teil einer generalstabsmäßig durchgeführten Evakuierung des gesamten Children Medical Centers in die dortigen Untergrundanlagen. Die Arbeitsplätze aller Projektbeteiligten waren davon betroffen.
Xiao fand diesen Aufwand etwas übertrieben, zumal sicher war, dass die Gefahr aus dem All erst in drei bis vier Wochen akut wurde. Er erklärte sich die in seinen Augen unverhältnismäßige Aktion nur so, dass eine umfassende Übung durchgeführt werden sollte, die wahrscheinlich nicht ausschließlich auf die zu erwartenden Meteoreinschläge abgestimmt war, sondern deren Ankündigung viel mehr zum Anlass nahm, die Bevölkerung auf Massenkatastrophenschutzmaßnahmen bei militärischen Schlägen, Erdbeben oder Vulkanausbrüchen vorzubereiten.
Es war Mai und das Wetter war gut, um sich draußen aufzuhalten. Während Umzugspersonal am Vormittag einige unverzichtbare Möbel und Gerätschaften aus den Projekträumen abtransportierte, hatten die Kinder nach ein paar Stunden Sitzunterricht nun Sport und konnten sich im nahe gelegenen Deng Xiao Ping Park austoben. Am Nachmittag nach erfrischendem Schwimmen und Duschen trommelte Xiao sie zusammen und packte sie mit ihren Schulsachen in einen Elektrobus, der sie nach Da Chang brachte. Sie fuhren dort an einer riesigen Baustelle vorbei, bei der allerdings oberhalb des Erdbodens außer zahllosen Baukränen, Materialsilos nur Stapel von temporären Büro- und Wohncontainern zu sehen waren, die über den als Sichtschutz wirkenden Bauzaun hinausragten.
„Die wollen uns doch wohl hier nicht einbetonieren“, krächzte Ka, seinen sich anbahnenden Stimmbruch kaum verhehlend. Das sollte ein Witz sein, um im Bus gegen die vorbei ziehende unwirtliche Großbaustellenatmosphäre für etwas Aufmunterung zu sorgen. Doch die anderen reagierten nicht darauf. Xiao erklärte seinen Zöglingen: „Hier entsteht das größte unterirdische zivile Versorgungssystem der Welt.“ Alle Jungen hätten darüber gerne gestaunt, wenn es denn etwas zum anstaunen gegeben hätte, außer diesem endlosen Baustellengelände, das in der freundlichen Nachmittagssonne völlig deplaziert erschien und eher den Eindruck einer Mondstation hinterließ.
Nach einer Weile erreichten sie ein Tor, durch das sie ins umzäunte Baugelände einfuhren und sich der Straße folgend wie bei einer Tiefgarage spiralenförmig in den Untergrund hineinwanden. Die weiße Neonbeleuchtung an den glatten Betonwänden wirkte keineswegs anheimelnd auf die Kinder. Ihnen kam es wie ein unterkühltes Abenteuer vor. Die Abfahrt in die Tiefe endete vor einer Schranke. Der Bus hielt. Alle Insassen mussten aussteigen und an einem Identitätserfassungsgeräts vorbei defilieren, dann wieder einsteigen, und dann ging es weiter. Schließlich erreichten sie in der Höhlenstraße eine Ausbuchtung, die wie bei der Auffahrt eines Hotels zu hohen, von einem warmen Licht erleuchteten Glastüren führte, die sich wie Schiebetüren sofort automatisch öffneten. Sie stiegen aus und betraten eine Art Foyer, das mit Sitzmöbeln, Boden- und Wandteppichen, Bildschirmen, blumenreichen Bepflanzungen, Wasserspielen und schließlich mit einem belebten Aquarium großzügig ausgestaltet war. Arr ergriff die Hand Xiaos, der gerade beim Rundumblick neben ihn zu stehen kam, zog ihn zu sich herunter und flüsterte ihm zu: „Ich habe keinen Empfang hier“. Xiao verstand schnell, dass in diesem Betongewölbe der Funkkontakt für die Doppelpräsenzverbindung unterbrochen war. Und er wusste, dass er als Betreuer von Arr und Ka dafür verantwortlich war, diese Verbindung immer aufrechtzuerhalten, solange zumindest eine der Zwillingshälften in seiner Obhut war.
„Warte, bis wir in den für uns bestimmten Räumen angekommen sind. Dort müssten entsprechende Verstärker wie zu Hause zur Verfügung stehen. Vorerst wird das, was du aufnimmst bei dir zwischengespeichert. Wenn dann die Verbindung wieder da ist, könnt ihr euch gegenseitig updaten“. Xiao führte die Gruppe mit Hilfe eines Navigators in einen Aufzug, fuhr fünf Etagen tief und gelangte schließlich mit den Kindern und ihren Begleitpersonen in die nur provisorisch vorbereiteten Projekträume, ins Exil, wie Xiao das scherzhaft nannte.
Das Exil war erfreulicherweise schon eingerichtet. Xiao war erleichtert, denn er hatte befürchtet, man hätte das Verteilen der Möbel und Befüllen der Spinte und Arbeitsplätze den Teenagern überlassen. Das hätte unzweifelhaft zu einem Chaos geführt. Aber so gab es nur sporadisches Aufbegehren, weil jemand sein Arbeitsgerät in den Händen eines anderen entdeckte und ein Handgemenge anzettelte. Damit wusste Xiao aber umzugehen. Somit galt fürs Erste die Überführung der Kindergruppe in den Bunker als gelungen. Natürlich wollten die Jungen gleich ihre Schlafplätze in Augenschein nehmen. Xiao war positiv überrascht. Es gab nicht einmal mehr übereinander gestapelte Betten, sondern drei mit Durchgangstüren verbundene Schlafräume mit je vier Liegen und je eigener individueller Ablage.
Arr stupste Xiao an und deutete auf seine Kontaktbrille, um an seine Kommunikationsprobleme zu erinnern. Denn allzu gerne wollte er He die neue Heimstatt zeigen und ihn auf das vorbereiten, was der ja hier in ein bis zwei Wochen auch selbst erleben durfte. Dann würden sie nämlich wieder gegeneinander ausgewechselt werden. Xiao besann sich und suchte nach der erforderlichen Verstärkereinheit in benachbarten Räumen, die er den Betreuern und den technischen Dienstleistungen vorbehalten glaubte. Dort vermutete er das gesuchte Gerät, das ihm vom Außenanblick bestens vertraut war. Denn Pilar hatte ihm ans Herz gelegt, immer für die Funktionstüchtigkeit des Verstärkers zu sorgen. Bei seiner Suche in verschiedenen Räumen, die alle nach frischer Wandfarbe und Reinigungschemikalien rochen, stieß er auf Techniker, die mit Installationen beschäftigt waren. „Wisst ihr, wo ich den ITE Verstärker finde, der müsste beim Umzug der Kindergruppe mit hierhergekommen sein“, fragte er sie. Doch die schauten ihn verständnislos an. „Hier gibt es keine spezialisierten Verstärker mehr. Alle Signale jedes Formats werden über nur ein Netzwerk verarbeitet und dann bei Bedarf automatisch verstärkt. Es gibt hier keine zusätzlichen Gerätschaften für Spezialanwendungen über ITE oder andere. Wahrscheinlich muss jemand den Signaltyp, den du brauchst, einfach im System einrichten, sonst nichts“, erklärte ihm einer der Angesprochenen. „Könnt ihr das denn nicht machen?“ fragte Xiao bittend. „Und wer autorisiert das?“ kam gleich die schroffe Gegenfrage. Darauf zu antworten zögerte Xiao. Ihm war dazu Yan Pu eingefallen. Doch dann bot ihm einer der Techniker an: „Zeig mal das Gerät, um das es geht. Vielleicht können wir direkt etwas machen“. Xiao überlegte nicht lange und sagte: „Ja, o.k., ich bringe es.“ Er ging los, um Arr zu holen, denn die Spezialbrille mit der die Zwillinge ihre Datenverbindung aufbauten, konnte nur auf dem Kopf des Besitzers aktiviert werden. Für Xiao war sie wie für jeden Fremden gesperrt. Als er mit Arr zurückkehrte, zückte der hilfsbereite Techniker ein elektronisches Analysegerät und nach einigen Minuten des Messens und Justierens sagte der Fachmann erstaunt zu seinem Kollegen: „Das ist eine ITE-2-Verbindung, die ist nicht im Standard.“
„Was heißt das?“, wollte Xiao besorgt wissen.
„Wir müssen nur noch etwas einspielen, dann müsste alles funktionieren“, erklärte ihn beruhigend der Hilfsbereite. Xiao und Arr schauten interessiert zu, was die Fachleute taten. Die wollten wissen, in welchen Räumen er sich mit seiner Brille denn aufhielt. „In allen“, antwortete Arr sofort. Xiao verstand, was die Techniker meinten und beantwortete selbst die Frage: „Im Bereich des Kinderprojekts“ und reichte ihnen seinen Navigator hin, mit dessen Hilfe er den Weg im Untergrund gefunden hatte. Dem waren Informationen entnehmbar, mit denen die Techniker etwas anfangen konnten. Nachdem sie eine Zeitlang mit der Einrichtung der Elektronik beschäftigt gewesen waren, sagten sie: „So, jetzt klappt es. Geht in eurer Räume, wenn es dann nicht klappt, dann kommt einfach wieder her. Aber es wird klappen“, beteuerten sie.